Mitreißend und visionär!

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Bei allem was im Frühling in der Natur summt und brummt, schaue ich genauer hin, seit mich im letzten Jahr Dave Goulson mit seinem Buch über Hummeln sozusagen infiziert hatte. Von daher war mein Interesse schon vor dem Erscheinen der deutschen Ausgabe von Maja Lundes Roman "Die Geschichte der Bienen" (norwegischer Originaltitel "Bienes historie") geweckt.

"Wenn die Biene einmal von der Erde verschwindet, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben. Keine Bienen mehr, keine Bestäubung mehr, keine Pflanzen mehr, keine Tiere mehr, kein Mensch mehr."

Ob dieses Zitat wirklich Einstein zuzuschreiben ist, gilt als höchst umstritten. Auch die Zeitangaben sind eher zweifelhaft, aber es bleibt eine Tatsache, dass das fortschreitende Bienensterben (Colony Collapse Disorder) ziemlich bedrohlich ist. Sehr real wird dies dem Leser im vorliegenden Roman vor Augen geführt.

Ja, es brummt und summt in Maja Lundes Roman wie in einem Bienenkorb. Auf spannende und kunstvolle Art gelingt es ihr, die Geschichte der Bienen mit persönlichen Schicksalen zu verweben.
Der Leser trifft auf drei Charaktere aus unterschiedlichen Zeiten, auf verschiedenen Kontinenten, die nicht nur durch die Bienen, sondern die Sorge um ihre Kinder, die familiären Auseinandersetzungen, persönliche Dramen, ihre Träume und Visionen, ihr Scheitern und Hoffen verbunden sind.

In England ringt 1852 der Biologe und Saatkaufmann William sich aus seiner tiefen lähmenden Melancholie hervor, um durch die Erforschung der Bienen und Entwicklung eines neuartigen Bienenkorbes seiner vielköpfigen Familie wieder zu Brot und Ansehen zu verhelfen.

Dem Imker George ist das Verhältnis zu seinem Sohn fast aus den Händen geglitten. Statt den Hof zu übernehmen, sieht er seine Ziele im Schreiben. Doch in den USA des Jahres 2007 mit seiner industriellen Landwirtschaft wartet noch ein größerer Schrecken auf George und seinen Bienenbestand.

Sehr krass und schier atemberaubend ist der Sprung in die Zukunft. Das Leben auf der Welt hat sich durch das Aussterben der Bienen gänzlich verändert. Im Jahr 2098 ist die Handbestäubung von Obstbäumen die harte Beschäftigung der jungen Mutter Tao in China. Sie treibt die Sorge um die Zukunft des kleinen Sohnes voran. Die Kindheit in jenen Zeiten ist kurz, wer braucht noch Bildung, wenn es um das nackte Überleben geht.
Die Geschichten der drei Hauptpersonen sind voller Energie und Spannung, denn ihr Lebensziel, um das es letztendlich zu kämpfen gilt, ist die Zukunft ihrer Kinder.
Während Vätern und Söhnen in Sprachlosigkeit verharren, versuchen die Frauen in den Geschichten, neue, Mut erfordernde Wege.
Erst am Ende wird offenbar, welches wichtige Band die drei Protagonisten miteinander verbindet.

Nie verlässt der Leser das Kapitel eines der Charaktere, ohne den Wunsch, ihn bald weiter begleiten zu können, aber voller Neugierde, im nächsten Kapitel endlich wieder auf eine der beiden anderen Hauptpersonen zu treffen, um deren dramatische Entwicklung weiter zu verfolgen. Ein echter Pageturner.
Taos Geschichte, die Umwelt- und Arbeitsbedingungen in denen sie lebt, hat mich besonders berührt.
Eine düstere Dystopie, aber eine durchaus mögliche.

Mich hat immer wieder fasziniert, wie Maja Lunde historische Geschichte mit Zukunftsvisionen, psychologisch gut entwickelte persönliche Schicksale mit ökologischen Ereignissen zu einem komplexen Ganzen verweben kann.

Fazit: Ein Buch, das ich uneingeschränkt empfehlen kann. Hoffentlich findet es eine breite Leserschaft und wird in möglichst viele Sprachen übersetzt.