Glück ist keine Geschichte

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zauberberggast Avatar

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“Mein Großvater hat mal gesagt, dass Glück keine Geschichte ist. Darum gibt es über diese ersten Wochen nicht viel zu sagen.”

Diese kraftvolle Aussage aus “Die Geschichte des Klangs” von Ben Shattuck hält uns die schmerzhafte, aber wichtige Erkenntnis vor Augen, dass Glück nicht literarisch ist und niemals sein kann. Nur der Verlust des Glücks ist erzählenswert, nur die Trauer um das Glück erschafft Kunst. Erfüllte Liebe ist nicht spannend für die Lesenden und deswegen hören die meisten positiv endenden, klassischen Lovestories auch dann auf, wenn die Liebenden sich bekommen haben. Nicht so bei David und Lionel, zwei Musikstudenten von der Ostküste der USA, die kurz vor dem ersten Weltkrieg - jung, schön und ungebunden - einander begegnen. David studiert Komposition und “sammelt” Lieder, David ist ein begabter Sänger und hat Synästhesie - er fühlt, riecht und schmeckt Farben. Sie werden ohne große Umschweife ein Paar.

Lionel blickt im ersten Teil des kurzen, gerade mal 104 Seiten zählenden Romans als alter Mann in den USA der 1980er Jahre auf ihre Liebe zurück. Und diese Liebe ist eben nur unsterblich, weil sie keine Erfüllung in der Dauer erlebt hat. Sie ist nur
solange “keine Geschichte”, so lange sie einen Sommer lang glücklich durch Maine reisen und Folksongs auf Wachswalzen aufnehmen. Sie lieben sich, essen Blaubeeren, bis sie blaue Zungen haben, sie schlafen unter freiem Himmel mit- und nebeneinander, sind einfach glücklich, bis das Leben sie kurz danach trennt und nie wieder zusammenführen wird. Nie wieder. Und dann ist es eben wieder der Verlust der Liebe, das Ende des Sommers und somit des Glücks, der eine Geschichte, der Literatur entstehen lässt.

Bei Amy ist es genau andersherum. Zu der jungen Frau, die im gleichen Amerika die Wachswalzen in ihrem neuen Haus mit Geschichte findet, war die Liebe gnädig. Sie hat ihren Henry, den Specht-Forscher, den attraktiven Ornithologen, bekommen, obwohl das Schicksal sie für kurze Zeit getrennt hat. Für sie gab es ein “danach”, ein Leben an der Seite des Mannes, den sie liebt. Aber ist dieses Leben trotz der ganzen Liebe auch ein erfülltes? Hat sie sich nicht selbst aufgegeben, um das Glück zu finden?

Der Roman stellt die Frage, ob eine kurze große Liebe, auf die man mit Wehmut, Leidenschaft und Trauer zurückblicken kann, nicht mehr wert ist als alle Erfüllung. Und das macht Ben Shattuck wirklich großartig. Auf eine leise, eindringliche Art, die einen noch lange über diese Frage nachdenken lässt.