Bildgewaltiger und facettenreicher 4. Band

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Die Geschichte des verlorenen Kindes
ist ein nachdenkenswerter Titel, verschwindet nicht erst im letzten Drittel Tina, die Tochter von Lila. Daraufhin verliert Lila mehr und mehr ihre Lebensfreude, kurz unterbrochen von einer Begeisterung für die historische Geschichte Neapels – eine Ansammlung von Kenntnissen über Bauwerke, Straßen, Namen, die Lenu insgeheim als großartig empfindet, so großartig lebendig, wie die erste Geschichte Lilas in der Grundschule, die einer der Anfänge der Faszination Lilas für Lenu gewesen ist. Nun ist die Zeit vergangen – der 4. Teil der Tetralogie spielt in den 1980 er Jahren. Beide Frauen sind erwachsen und haben Kinder von unterschiedlichen Männern. Lila und Lenu nähern sich während ihrer beider Schwangerschaft. Und nach Veröffentlichung eines hochgelobten Romans Lenus, der im im Rione, einem armen Stadtteil Neapels, wo beide aufgewachsen sind, spielt, zieht Lenu in die Wohnung über Lila, schwanger mit 2 Töchtern. Beide helfen sich gegenseitig bei der Kinderbetreuung und so scheint ihre Freundschaft auf dem Höhepunkt angelangt. Um sie herum agieren die vertrauten Gestalten aus ihrer Kindheit, die Neapel nie verlassen haben. Die Solara Brüder korrumpieren mit Geld, Gewalt und illegalen Machenschaften wie Drogen das Viertel. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Nicht nur Lenus Sohn Gennaro wird von dem Einfluss der Solaras erfasst, auch andere Bewohner des Viertels lassen sich von diesem organisierten kriminellen Familienclan verführen und erpressen. Als Gegenpart die Revolutionäre und Kommunisten. Elena Ferrante zeichnet ein detailliertes Bild des damaligen Italiens mit Brennpunkt Neapel: die Herrschaft der Männer, die Abhängigkeit der Frauen. . Für Nino, des seit ihrer Jugend geliebten Mannes, verlässt Lenu ihr gesichertes Leben in Florenz und muss letztendlich erfahren dass Nino nicht der ist, der er erscheint. Der lange Weg bis hin zum endgültigen Entschluss ihn zu verlassen lässt uns Leser/innen seitenlang mitleiden. Doch Lenu bestreitet ihren Weg erfolgreich. Nach etlichen Veröffentlichungen wird sie bekannt und für eine Zeitspanne berühmt. Sie trifft den Ton der damals herrschenden politischen Unzufriedenheit und äußert sich direkt zu den Solara Brüdern und ihren Machenschaften. Nicht ohne Konsequenzen. Doch die Solara Brüder kommen unbeschadet davon. Die Korruption geht bis hin zu Verwaltung und Politik. Nino Sarratore bekommt als gewählten Politiker in Rom vorerst Ansehen, scheitert dann auch aufgrund des Verdachts der Korruption auch in seiner Partei. Die Helden und Heldinnen bekommen immer mehr Kontur, gewinnen oder scheitern. Lila wird erfolgreiche Geschäftsfrau zusammen mit ihrem Lebensgefährten Enzo. Lenu übernimmt später die Verantwortung eines kleinen Verlages. Großartig beschrieben sind die uns schon bekannten Mitspieler, ihre Entscheidungen, Veränderungen detailliert beleuchtet. Jederzeit ein Vergnügen, die Lebenswege zu verfolgen. Sehr hilfreich sind am Anfang des vierten Bandes die mitwirkenden Familien zum Nachschlagen aufgelistet. Lenu hat sich aus den Wurzeln ihrer Kindheit befreit, hat einen Milieuwechsel aus eigener Kraft bewerkstelligt, ist in ihrer Zeit als Schriftstellerin bedeutend geworden. Lila ist im Rione geblieben, um von dort aus als Respektsperson mit unschlagbarem Charisma zu walten, immer bereit ein heimliches Beben aufzudecken. Letztendlich zieht Lenu nach Norditalien. Lenu hat zu diesem Zeitpunkt eine beeindruckende Erzählung über die Freundschaft geschrieben. Doch Lila ist nicht mehr erreichbar. Eines Tages findet Lenu die schäbigen doch geliebten alten Puppen in ihrem Briefkasten, mit denen ihre Freundschaft begann und mit deren Wiederauftauchen ihre Freundschaft beendet scheint, da Lila sich entzieht. Doch sie und der Rione, alle Mitwirkenden dieser gewaltigen Tetralogie bleiben uns, der Leserschaft, einprägsam erhalten. Ein intelligentes Werk über Zeitgeschichte, Emanzipation und Freundschaft, bildgewaltig und facettenreich vermittelt.