Eine Reise, ein zweites Leben geht zu Ende

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
schmiesen Avatar

Von

"Anders als in den Geschichten neigt sich das wahre Leben, wenn es vorbei ist, nicht dem Licht zu, sondern der Dunkelheit."

Nach vielen Jahren kehrt Elena nach Neapel zurück - aus Liebe. Lila ist nie aus dem Rione herausgekommen, hat sich dort aber als einflussreiche, wohlhabende Geschäftsfrau etabliert, die den Solara-Brüdern Konkurrenz macht. Ihre lange gemeinsame Geschichte führt die beiden also wieder zusammen in ihre Heimatstadt. Doch gerade für Lila nimmt alles einen tragischen Ausgang.

Wie schon die drei vorherigen Bände habe ich "Die Geschichte des verlorenen Kindes" regelrecht verschlungen. Das ist insbesondere der Erzählstruktur geschuldet, die die Leser auf einen Wellenritt nimmt: Mal stürzt man mit den Figuren in tiefe Täler, gleich darauf erhebt man sich mit ihnen auf den höchsten Wellenkamm. So wird man von der Geschichte mitgerissen wie von einem reißenden Fluss. Der Schreibstil tut sein Übriges. Ihn zu fassen, fiel mir schon in den vorherigen Büchern schwer. Er ist detailreich, distanziert, gleichzeitig nah und präzise, und er trifft mitten ins Herz.

Denn Elena stellt Fragen. Sie reflektiert und wendet und fügt zusammen und reißt wieder auseinander. Man hat das Gefühl, durch dieses Buch in Lenùs Gedankenstrom mitzuschwimmen, ihre Erkenntnisse und Zweifel zu teilen. Und im Zentrum von allem stehen immer Lila und die Beziehung der beiden Frauen. Elena kommt nie von dem Gedanken los, nur durch Lila zu sein, wer sie ist. Zeitlebens begleitet sie die Vermutung, dass sie im Grunde nichts vermag. Immer wieder ändert sie die Einstellung zu sich und zu ihrer Freundin. Ich habe mich fortwährend gefragt: Was ist das für eine Beziehung? Kann man das wirklich als Freundschaft bezeichnen?

Aber noch entscheidender hallt immer die Frage nach: Wer ist Lila wirklich? Was für ein Mensch ist sie? Obwohl sich vier Bücher in großen Teilen mit ihr beschäftigen, bleibt sie bis zur letzten Seite des letzten Buches ein Geheimnis, das auch Elena nicht ergründen konnte. Deshalb muss sie auch für den Leser undurchsichtig bleiben. Wie gerne hätte ich nur einmal Lilas Stimme gehört. Elenas Vermutung oder gar Angst, ihre Freundin hätte in ihren Text eingreifen können, zeigt umso deutlicher, wie sehr wir auf Lenùs Perspektive festgelegt sind.

Aber genaus das macht den unfassbaren Reiz dieses Werks aus. Wir lernen durch Lenù die Kunst des Reflektierens und des Revidierens. Wir beginnen, unsere Beziehungen genauer zu betrachten, die Menschen dahinter zu sehen. Was ist Intelligenz? Was ist Können? All diese Fragen, und noch hunderte weitere, werden auf zig Arten beantwortet - und auch wieder nicht. Von Elena habe ich nach diesem Büchern ein mehr oder weniger gestochen scharfes Bild. Lila bleibt verschwommen, immer knapp außer Reichweite. Diese Distanz und gleichzeitige Nähe zu schaffen, ist das Meisterstück der Autorin.

Ich verlasse Elenas und Lilas Welt nur äußerst ungern. Ich konnte mich in diese Bücher zurückziehen wie in ein zweites Leben. Es hat sich nie so angefühlt, als würde ich eine ausgedachte Geschichte lesen, nein, es war eine reale Erfahrung, die mich außerordentlich begeistert hat. Die Vorstellung, jetzt nur noch in das "alte Leben" der beiden zurückkehren zu können, keine neuen Seiten mehr aus dieser Saga lesen zu können, macht mich traurig. Ich vergebe, sowohl für das Buch als auch für die Reihe als Ganzes, 5+ Sterne und mehr.