Ferrante überzeugt auf ganzer Linie!

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mrsamy Avatar

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Es ist der letzte Band der vierteiligen Neapolitanischen Sage: Lila und Elena sind erwachsen geworden und stehen mit beiden Beinen fest im Leben. Manch turbulente Jahre liegen hinter, aber auch vor ihnen. Elena hat sich schließlich für Nino entschieden und lässt ihren Mann Pietro, aber auch zeitweise ihre Töchter hinter sich. Doch nach und nach kommt die Wahrheit über den von ihr innig geliebten ans Licht und schließlich zieht Elena wieder nach Neapel und damit in den Einflussbereich von Lila. Lila dagegen scheint unbeirrt ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Sie hat eine kleine IT-Firma gegründet, bietet den Solaras die Stirn und entfaltet ihre besondere Anziehungskraft. Doch im Rione wirken Kräfte, die alles, was stabil zu sein scheint, bis ins Mark erschüttern können.

Nachdem mich der dritte Band der Sage ein wenig enttäuscht zurückgelassen hatte, beweist Ferrante mit dem letzten Teil der Neapolitanischen Sage ihr ganzes Können. Die Charaktere erfahren eine große Entwicklung, vor allem Elena wird mündiger. Schien sie bisher stark von Lila abhängig, findet sie nunmehr ihren eigenen Weg. Für mich ist Elena eine selbstbewusste Frau, die – natürlich – auch ihre Fehler hat. Sie lässt sich von Nino blenden, bildet sich tatsächlich ein, sie könnte diejenige sein, die er wirklich und ausschließlich liebt. Doch Nino kann ohne Frauen nicht sein und so lässt sich Elena darauf ein, dass Nino ihr eine Wohnung in Neapel verschafft, immer mal wieder bei ihnen ist, ansonsten aber natürlich bei seiner Frau und seinen Kindern bleibt. Elena schien mir in dieser Hinsicht ein wenig naiv bzw. wirklich blind vor Liebe zu sein. Bereits in den vorherigen Bänden wird deutlich, dass Nino schon sehr viele verschiedene Frauen gehabt hat und sich – wenn bei diesen Beziehungen ein Kind entsteht – nicht wirklich darum kümmert. Warum sollte es ausgerechnet bei Elena anders sein? Lila versucht die Freundin zu warnen. Doch war sie früher zumeist immer verletzend und demütigend, ist sie nun vorsichtiger. Sie scheint zu spüren, dass sie auf Elena nun einen weitaus geringeren Einfluss hat. Im Laufe der Zeit avanciert Elena zur erfolgreichen Schriftstellerin, die auf Männer nicht mehr angewiesen ist. Sie kehrt zurück zu ihren Wurzeln – zieht wieder in den Rione. Hier jedoch wirkt sie mit ihren Töchtern eher wie ein Fremdkörper. Sie gehört der italienischen Bildungselite an, ist eine kleine Berühmtheit geworden und lebt – freiwillig – in Verhältnissen, die eigentlich weit unter ihrem Niveau liegen. Es wird immer wieder deutlich, dass sie gerne zurück in die Welt ihrer Kindheit möchte. Sie braucht Lila nun nicht mehr, um zurecht zu kommen, aber ohne sie, ohne ihren Rat scheint sie am Ende doch nicht leben zu können.
Für mich ist die Freundschaft zwischen den beiden Frauen noch immer ein Rätsel, oftmals geht vieles zu Elenas Lasten. Die beiden Frauen werden in ihren 30ern wieder schwanger, bekommen Mädchen. Für einige Jahre befinden sich Lila und Elena im Gleichgewicht. Beide sind erfolgreich, beide stehen im Leben und können sich – wenn es Hilfe bedarf – immer auf ihre Freundin verlassen. Doch dann verschwindet Lilas Tochter und Lila wird den Rest ihres Lebens an diesem schmerzlichen Verlust zu tragen haben. Sie stößt mehr denn je, die Menschen von sich weg, erweist sich ganz und gar als ungesellschaftlich. Ihr Charakter ist sicherlich einzigartig, immer begrenzt sie sich und ihre Genialität, sperrt sich ein in den engen Grenzen des Rione. So viel hätte aus ihr werden können. Am Ende ist sie meiner Meinung nach frei und doch gescheitert mit ihrem Leben. Elenas Leben dagegen war und ist erfüllt, durchdrungen von Höhen und Tiefen.
Den späten Jahren wird nur wenig Platz im Buch eingeräumt, es scheint, als hätte das Leben mit Mitte 50 keine Bedeutsamkeiten mehr vorzuweisen. Ich finde es schade, dass Ferrante ihr indirekt dem Leser bedeutet, bis hierin musst du dein Leben gelebt haben, danach kommt nur noch das Alter. Ein Fehler, denn wie viele finden erst im Alter zu sich selbst.
Der Roman ist auch immer wieder von Politischem durchdrungen. Politik, Gewalt und Korruption spielen im Italien der 80er Jahre eine große Rolle und so wird auch das Leben der Protagonisten immer wieder von den verschiedensten Großereignissen bestimmt. Alte Schemata lösen sich auf, was stabil schien wankt und hervor kommt eine neue Ordnung, die am Ende doch nur wieder die alte.
„Die Geschichte des verlorenen Kindes“ ist ein großartiger Roman, den man unbedingt lesen sollte!