Unendliche Schattierungen einer Freundschaft

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rauschleserin54 Avatar

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Lenu hatte es geschafft. Sie war dem Rione entkommen, der Armseligkeit und Enge ihrer Kindheit, der Mutter mit dem hinkenden Bein, der Chancenlosigkeit einer Frau an diesem Ort. Sie hatte es geschafft, ihr Studium, ihre Heirat mit Pietro Airota, dem Sohn eines berühmten Mailänder Professors. Sie hatte es geschafft und war Mutter zweier Töchter und Buchautorin.
Dann traf sie Nino wieder, gerade zu einer Zeit, da ihr Mann und sie schon unüberwindbare Differenzen hatten in Bezug auf Haushalt, Erziehung, Karrieren. Einzig die Schwiegermutter schien auf ihrer Seite. Aber dann war alles vorbei, sie verließ immer öfter die Familie und dann mit ihren Töchtern den Mann, um Nino nach Neapel zu folgen. Kritische Stimmen überhörte sie, vor allem der von Lila und ihrer Mutter. Die kluge Frau musste erst tief fallen, um endlich zu einem Befreiungsschlag gegen Nino anzutreten und zu Lila in den Rione zu ziehen. Sie nehmen ihre Freundschaft wieder auf. Eine Freundschaft, die in allen Schattierungen ausgeleuchtet, nicht immer angenehm oder hilfreich ist. Manchmal weiß Lenu auch gar nicht wer sie selbst ist oder wer Lila. Auf jeden Fall gibt es unter den alten Freunden Geschehnisse, die die jüngste Entwicklung der Politk und der Gesellschaft Italien widerspiegeln und der im Rione im Besonderen.

Dieser letzte Teil der Tetralogie ist so atmosphärisch dicht, so aufgeladen von allen Nuancen der Stimmungsskala, die neue politische und gesellschaftliche Strömungen mit sich bringen. Immer mittendrin die Liebe, die Enttäuschung, die Freundschaft, der Verrat, der Stolz.......

Es ist nicht einfach für Lenu ihren Weg ohne Nino zu finden, aber mit ihm auch nicht. Aber die Freundschaft mit Lila. Da hilft ihr das Schreiben, das Aufdröseln einer ambivalenten Beziehung zwischen Liebe und Hass, Verständnis und Verachtung. Alle Facetten inclusive.

Ich bin beeindruckt, wie ehrlich die Autorin hinguckt, so schonungslos und selbstkritisch und auch wieder stark und unbeeindruckt. So genieße ich als Leserin Zeile um Zeile, nur um noch mehr von dieser Intensität, von diesen Bildern aufzusaugen. Und trotzdem bleibt auch noch für mich etwas Raum, um auch meine Beziehungen zu reflektieren. Das ist ganz große Kunst, so etwas hinzukriegen. Ich lerne viel über das Italien der 80er bis in das 21. Jahrhundert und die Stimmungen im Land. Nie hat der Rione diese beiden Frauen losgelassen. Die eine hat sich dort erhoben, die andere ist draußen zu einigem Ruhm gelangt, aber sie haben ihn in sich, diesen Rione und wir dürfen dabeisein und mitfiebern, wie alles endet.

Ich werde diese 4 vielschichtigen Teile immer wieder zur Hand nehmen, denn ich finde, es gibt immer neue Seiten zu beleuchten und mit dem Wissen des Letzten kann ich vielleicht noch einiges entdecken. Ein starkes Werk über zwei Frauen im Wandel der Zeit in Italien, von Mitte der Fünfziger bis ins nächste Jahrundert. Ein Zeitzeugnis der besonderen Art, ehrlich bis an die Schmerzgrenze und spannend bis zum letzten Wort. Das Besondere aber ist, das alles in einer außergewöhnlich eindringlichen Sprache verfasst wurde, so dass wir niemals unberührt davon sein können. Die gesamte Psychologie einer Freundschaftsbeziehung wurde hier auf den Punkt gebracht. Schade, dass es vorbei ist.