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„Die Geschichte des Wassers“ von Maja Lunde ist ein in mehreren Zeit- und Handlungssträngen aufgebauter Roman. Er ist Teil des Klima-Quartetts der Autorin, dass sich mit verschiedenen ökologischen Themen beschäftigt, bildet aber einen eigenständigen Roman. Es handelt sich in keiner Weise um ein Sachbuch oder ein als Roman verpacktes Sachbuch, in dem wissenschaftliche Fakten zum Thema Wasser vermittelt werden, sondern eine wirkliche Geschichte, in der Wasser aus verschiedenen Gesichtspunkten und natürlich sowohl aus ökologischer, ökonomischer und politischer Sicht eine Rolle spielt – sonst hätte dieses Buch ja keine Aussage, doch die hat es eindeutig.

Es wechseln sich Kapitel aus Sicht von Signe, einer Norwegerin im Jahr 2017 und David, einem Franzosen, im Jahr 2041 ab. Signes Part wird dabei bereichert um ihre Erinnerungen, so dass ich hier eigentlich die Zeitstellung 1950-1975 ergänzend nennen möchte, da die Ereignisse dieser Jahre ebenso entscheidend für die Gesamtgeschichte sind wie ihre aktuellen Erlebnisse 2017.
Signe stammt aus einem kleinen Dorf an einem Fjord. Rundherum ragen die Gebirgsgipfel in den Himmel, Wasserfälle rauschen von den Hängen und der gewaltige Blåfonna-Gletscher thront über allem. Signes Familie gehört das Hotel des Ortes. Hier wächst sie auf, inmitten herrlichster Natur, doch irgendwann beginnt sich in ihrer Familie und in der gesamten Region der Widerstreit zwischen ökologischen und ökonomischen Interessen, Tourismus, Artenschutz versus Wasserkraft zu verschärfen und prägt ihr Denken und ihr weiteres Leben. Signe wird zu einer Umweltaktivistin, einer Journalistin, die sich weltweit engagiert und ihre Ansichten vertritt. Im Jahr 2017 führt sie eine Mission zurück in ihre Heimat. Eine neue Steigerung der Ausbeutung ihrer geliebten Natur ruft in der fast 70-jährigen noch einmal die Revoluzzer-Energie alter Tage hervor. Mit ihrem Boot Blå macht sie sich auf den Weg, einen Denkzettel zu verteilen.

Eben jenes Boot Blå findet David im Jahr 2041. Er ist mit seiner Tochter Lou auf der Flucht nach Norden und auf der Suche nach seiner Frau Anna und Sohn Auguste. Sie haben sich nach einem Flächenbrand in ihrer Heimatstadt verloren. Die politischen und klimatischen Verhältnisse im Süden Europas sind katastrophal. Die EU ist seit langem zerfallen, Spanien geteilt. Politisch wird zwischen Wasserländern und Dürreländern unterschieden. Frankreich gehört zu letzteren. Seit Jahren hat es nicht mehr geregnet. Kanäle, auch der Canal du Midi und der Canal de Garonne, früher die wichtige Verbindung zwischen Atlantik und Mittelmeer sind trocken gefallen. Meerwasserentsalzungsanlagen sind zu den wichtigsten Industrieanlagen geworden. Es besteht ein Menschenstrom nach Norden, dahin wo es regnet, wo es kühler ist. Flüchtlingslager dienen der wandernden Masse als Zufluchtsorte. Doch die Versorgung wird immer schlechter. Konflikte weiten sich aus, die menschlichen Bedürfnisse werden elementarer und der Wille sie zu erfüllen und die angewandten Mittel archaischer. Gemeinsam mit Marguerite, die David und Lou im Lager kennengelernt haben, schmieden sie in der Ausweglosigkeit Pläne, und hoffen, dass Signes altes Boot Blå Teil der Lösung sein kann.


Fazit: Die Geschichte des Wassers ist ein Umweltroman, der nicht langweilt. Der nicht zu dogmatisch ständig mit erhobenem Zeigefinger daherkommt, sondern durch seine menschliche Nähe, durch die Empathie des Lesers mit den Protagonisten und der steten Nachvollziehbarkeit ihrer Handlungen, das Ganze glaubhaft, besorgniserregend und sehr persönlich erlebbar macht. Man kann die Szenarien nachempfinden und verstehen, dass diese Zukunft beängstigend und furchtbar ist und dass man alles tun sollte, damit es nicht wo weit kommen wird. Ob das möglich ist, weiß niemand. Aber jeder solle etwas dafür tun:
„Ich finde nichts von alldem, was du je unternommen hast, lächerlich.“
„Aber es hat nichts bewirkt.“
„Du weißt nicht, wie die Welt aussehen würde, wenn du es nicht getan hättest“ (…). (S. 460)
In diesem Dialog zweifelt Signe, ob ihre Taten wirklich sinnvoll waren. Sie, die Umweltaktivistin erster Stunde! Aber das Entscheidende ist genau die Erwiderung ihres Gesprächspartners: auch wenn es dir unbedeutend vorkommt, du weißt einfach nicht, was passiert wäre, wenn du niemals eines der vielen winzigen Dinge getan hättest, die irgendetwas verändert haben – in deiner Familie, deinem Dorf, deiner Region – auf der Welt.

Denn das Buch ist natürlich auch ein Appell, eine Mahnung mit unseren Ressourcen sorgsam umzugehen, die Auswirkungen unseres Handelns im Kleinen und Großen zu überdenken und auf seine Auswirkungen auf das Klima, die Flora und Fauna zu achten. Es zeigt auf, wie aus unbedeutenden ökologischen Anpassungen, ökonomische, politische und humane Katastrophen entstehen, die nicht mehr einzudämmen sind und globale Ausmaße erreichen.
Witzig, kurios, interessant finde ich, dass ich von Anfang an, als Signe ihre Heimat, ihren Fjord, die Wasserkraftnutzung schildert, den Eidfjord vor mir hatte, den ich zufälligerweise im letzten Jahr besucht habe. Die Stauseen, die Wasserfälle, das Gebirgsplateau der Hardangervidda - ich bilde mir zumindest ein, dass Maja Lunde diese Landschaft vor Augen hatte, denn im „Literaturverzeichnis“ findet sich ein entsprechendes Werk zur Historie des Eidfjordes. Das hat es natürlich für mich persönlich sehr plastisch gemacht.

Ich weise mal vorsichtshalber auf SPOILER hin, obwohl ich versuche, mich nicht sehr explizit auszudrücken: was mich am Ende und darüber hinaus noch sehr beschäftigt hat, ist die hoffnungsvolle Hoffnungslosigkeit am Ende im Handlungsstrang David/Lou. David ist zuversichtlich, glücklich über seinen Zufallsfund und vermittelt das Gefühl, es handele sich tatsächlich um einen Ausweg, „die Rettung“. Und ich sehe die ganze Zeit die Menge dessen vor mir, was er gefunden hat und zweifle. Und dann steht es auch schon im nächsten Satz, seine Einschätzung einer Zeitdauer, die dieser Fund ermöglicht. Und ich weiß – und er weiß es doch auch, dass das gar nichts ändern wird. Was mir nicht gelang einzuschätzen, ist ob sein Optimismus Fassade ist oder ob er ihn empfindet. Mir gelingt das nicht, und das fühlt sich einfach ziemlich flau im Magen an, wenn man das Buch zuschlägt.
(evt. SPOILER-Ende)

Daher erhält das Buch von mir eine absolute Leseempfehlung.