Aus mir wurde, was ich verdient habe

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buecherfan.wit Avatar

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In Tom Rachmans drittem Roman “Die Gesichter“ ((Originaltitel: “The Italian Teacher“ ) geht es um eine ganz besondere Vater-Sohn-Beziehung. Bear Bavinsky, der berühmte Maler, lebt nur wenige Jahre in Rom mit seiner dritten Ehefrau Natalie und seinem Sohn Charles , genannt Pinch, zusammen, bevor er sie für eine andere Frau verlässt, mit der er bereits Kinder hat. Natalie ist Töpferin und will sich ebenfalls als Künstlerin durchsetzen. Ihr Mann fördert diese Bestrebungen nicht, sondern hindert sie an ihrer künstlerischen Entfaltung. Charles liebt und bewundert seinen Vater. Ein Leben lang wird er versuchen, seine Liebe und Anerkennung zu erringen. Er ist der eigentliche Protagonist des Romans. Beginnend im Jahr 1950 bis zu seinem Tod im Jahr 2018 wird sein Leben im Schatten des großen Mannes erzählt. Für Bear Bavinsky ist nur er selbst wichtig. Seiner Kunst muss sich alles andere unterordnen. Birdie, eines seiner siebzehn Kinder, wird nach seinem Tod formulieren „Ach, Daddy. Die Kunst war so viel besser als der Mensch.“ (S. 364). Auch Charles will Maler werden, und seine Mutter hält ihn für sehr talentiert. Sein Vater Bear beendet jedoch nach einem flüchtigen Blick auf ein Bild seines Sohnes diese Ambitionen mit einem einzigen grausamen Satz: “…aber ich muss dir sagen, Kiddo, ein Maler bist du nicht, und du wirst auch nie einer werden.“ (S. 99). In Wirklichkeit duldet er lediglich keine Konkurrenz und schon gar nicht aus der eigenen Familie. Gegen Ende seines Lebens, als es für alles fast zu spät ist, macht er Charles zu seinem Nachlassverwalter und betont seine besondere Stellung in der Reihe seiner Nachkommen. Geprägt von einem egozentrischen Giganten mit zahlreichen Ehefrauen und unzähligen Geliebten bleibt für Charles bis dahin jedoch nur ein Leben in der Mittelmäßigkeit, ein immerwährendes Scheitern in privaten Beziehungen und in seinem beruflichen Werdegang. Er wird nicht Künstler, auch nicht Kunsthistoriker und Biograph seines Vaters, sondern Lehrer für Italienisch an einer unbedeutenden Londoner Sprachschule. Am Ende bleiben ihm Marsden McClintock, ein Freund aus der Studienzeit, und Kollegin Jing aus der Sprachschule. Sie sind die einzigen außer dem Leser, die wissen, dass Charles schließlich einen nicht ganz ungefährlichen Weg gefunden hat, sich selbst seinen Wert zu beweisen. Er sucht keinen Schuldigen für sein lebenslanges Versagen.
Der Roman zeichnet jedoch nicht nur exemplarisch das Leben eines Sohnes im Schatten eines übermächtigen Vaters nach. Es geht auch um eine Vielzahl anderer Themen. Steht der bedeutende Künstler über der Moral und kann rücksichtslos tun und lassen, was er will? Was ist Kunst, und wer bestimmt ihren Wert? Welche Rolle spielen dabei Galeristen und alle anderen, die mit der Kunst Geschäfte machen? Wie wichtig ist Authentizität?
Mir hat der Roman sehr gut gefallen, und ich habe mich keinen Augenblick gelangweilt. Neben Einblicken in die Kunstwelt gibt es sehr traurige Episoden, aber auch Humor und Bonmots wie die Aussage, dass Leute mit Geld über Kunst reden, Künstler dagegen nur über Geld. Ein sehr empfehlenswerter Roman.