Der große Künstler: exzentrisch – egozentrisch

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Bear Bavinsky ist Maler. Spezialisiert hat er sich auf Akte, wobei seine „Spezialität“ Körperausschnitte sind. Nie zeigen seine Werke den ganzen Körper seiner Modelle, sondern nur einen Teil. Einen Arm, die Hände, den Hals. Zumindest die Werke, die man kennt, die überhaupt jemals jemand außerhalb seines Ateliers zu Gesicht bekommen hat. Denn Bear malt nicht für den Markt, für die Sammler, die Galeristen. Sein erklärtes Ziel ist es, je ein Werk in jedem bedeutenden Museum der Welt zu wissen und so macht er ein Riesengeheimnis aus seiner Malerei und seiner Person, seinem täglichen Tun und seinen Aufenthaltsorten. Ein Exzentriker wie er im Buche – oder eben in diesem Fall an der Staffelei steht. Es erinnert insgesamt ein wenig an den Autor John D. Salinger.
Dazu besitzt er ein unstetes Gemüt, ist kein verlässlicher Ehemann und Vater, als wären diese alltäglichen Dinge, menschliche Beziehungen und Kommunikation außerhalb seiner Sphäre, als könne er sie nicht einmal wahrnehmen, da seine Sinne nur auf die Malerei geeicht sind. Und so bringt er es dann im Laufe seines Lebens auf eine stattliche Anzahl Ehefrauen und insgesamt siebzehn Kinder, doch für sie alle interessiert er sich nur sehr kurzfristig, außer für Charles, genannt Pinch aus dessen Perspektive Rachmans Roman „Die Gesichter“ erzählt wird.
Geboren 1950 in Rom während Bears Ehe mit der viel jüngeren Keramikerin Natalie, wird er zu so etwas wie Bears Lieblingssohn – und sogar zu ihm pflegt er nur sporadischen Kontakt, Enttäuschungen sind eigentlich an der Tagesordnung, auch wenn sie manchesmal nicht als solche gesehen werden, weil es zu schmerzhaft wäre. Der Künstlervater, dessen Verhältnis zu seiner Mutter prägt Pinchs gesamtes Leben, seine Interessen, jede Entscheidung, die er im Leben treffen wird: als Jugendlicher zu malen, es zu lassen, in die USA zu gehen, in London als Sprachlehrer zu arbeiten, die Art und Weise wie er Freundschaften und Beziehungen angeht, pflegt und in den Sand setzt – alles ist immer geprägt von dem einmaligen Egozentriker Bear, Bears Aussagen bei den gelegentlichen kurzen Telefonaten, Pinchs Interpretation dessen, den Geschehnissen in der Kunstwelt an sich und Bears Verhalten gegenüber seinen Nachkommen. Pinch hadert, Pinch ist wütend, Pinch manövriert sich irgendwann in eine schwierige Situation, die alles ändert – und rückt damit letztlich seinen eigenen Platz irgendwie zurecht, auch wenn es keiner weiß.

Tom Rachman ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Seine Bücher sind nicht belanglos und leicht, aber oft in einem leichten, hintergründig humorvollen und zugleich so intelligenten Tonfall gehalten, der mich einfach begeistert. Auch in diesem Werk liegt in den Personen die große Stärke. Dem wirklich unglaublich großen Egoisten Bear, der nur sich, seinen Zeitplan, seine Sicht auf die Dinge überhaupt wahrnimmt. Der ruhige Charles/Pinch, unsicher, leise, jemand der potenzielle Dates zu Hause übt, Natalie, Marsden, Jing – sie alle hat man plastisch vor Augen, ihre Charakterzeichnungen sind so fein und präzise, dass man manchmal glaubt, ihre Mimik beim Lesen wahrnehmen zu können. Sie machen einen mitunter wütend (Bear mit seiner Ignoranz, Charles mit seiner Passivität, Natalie mit ihrer Lethargie) und sie lassen einen mitfühlen.
Und das macht „die Gesichter“ zu einem großen Lesegenuss.