Durchaus lesenswerter "Spätblüher", der Beziehungen und Kunstszene unter die Lupe nimmt

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"Ach, Charlie. Das solltest du inzwischen aber wissen: Niemand sieht sich selbst."


Charlie, genannt Pinch, ist der Sohn eines der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts: Bear Bavinsky. Sein Vater ist sein großes Idol, seine Mutter Natalie, die auch künsterliche Bestrebungen hegt, nimmt er kaum wahr. Als er dann als Jugendlicher selbst mit dem Malen anfängt und sein Vater eins seiner Bilder mit einer vernichtenden Kritik abtut, getraut er sich nicht, seine Leidenschaft weiter zu verfolgen. Aber auch mit der Uni-Karriere will es nicht richtig funktionieren. Sein Leben lang steht Pinch unter dem Scheffel seines beziehungsunfähigen Vaters - bis er sich auf ungeahnte Weise davon freimacht.

Wenn Charlie sich am Ende seines Lebens fragt: "Ist das eine Tragödie? Dass die Höhepunkte meines Lebens in meinem Innern stattfanden?", so blickt man auch als Leserin zurück auf dieses Leben, das gezeichnet ist von einer ungleichen, zerstörerischen Vater-Sohn-Beziehung und in dem scheinbar nie etwas gelingt. Zu großen Teilen habe ich Charlie als Jammerlappen empfunden, als Schwächling, der mit zusehends auf die Nerven ging. Ich finde, diesen Charakterzug, ebenso wie das abstoßende Äußere des Portagonisten, hat der Autor zu prägnant in den Vordergrund gestellt. Daher war Charlie für mich ein eher anstrengender Protagonist, dem ich, auf gut Deutsch gesagt, gerne mal in den Hintern getreten hätte.

Glücklicherweise b ekommt Tom Rachmann zum richtigen Zeitpunkt die Kurve und steuert seine Geschichte in eine Richtung, die viel Spannung mit sich bringt - es entspinnt sich ein kleiner Kunstkrimi mit Charlie und Bear im Mittelpunkt. Bear war für mich beinahe unerträglich in seiner herablassenden, demütigenden Art, wie er seinem jungen Sohn die Tür vor der Nase zuknallt mit den Worten "Ein Künstler wird aus dir aber niemals werden." Er hat kein Gespür für die Menschen, obwohl er sie so brillant malt (jedenfalls Teile von ihnen). Allein schon, dass er 17 Kinder mit etlichen Frauen gezeugt hat, und einen Großteil dieser Kinder einfach ignoriert, macht ihn für mich schon verachtenswert. Er hat seine künstlerischen Prinzipien, und denen unterwirft er jede Beziehung.

So entsteht ein immenses Spannungsfeld zwischen dem herrischen, machtbesessenen Vater und dem schwachen, nachgiebigen Sohn. Eine große Rolle spielt dabei auch Charlies Mutter Natalie, die zwischen den beiden Männern aufgerieben wird. Als junge Frau in Rom lernen wir sie kennen, als alte Verrückte stirbt sie in London. Der eigene Erfolg bleibt ihr verwehrt, ihr stetiger Verfall unter Bears Fuchtel ist schmerzhaft mit anzusehen.

Dass es Charlie letzten Endes auf leise, aber spektakuläre Weise gelingt, sich von Bear zu emanzipieren, ist sehr befriedigend. Die letzten hundert Seiten waren mein Highlight am Buch, denn dann wird es philosophisch und bedeutungsvoll . Zuvor ist es ein angenehmer, unterhaltsamer Künstlerroman, der das Milieu gut abbildet, aber erst gegen Ende blüht die Geschichte noch richtig auf .

Tom Rachmann hat mit "Die Gesichter" einen authentischen, schön zu lesenden Roman vorgelegt, der zeigt, wie verhängnisvoll ein Leben mit einem berühmten Vater sein kann. Die Stärke des Buches liegt eindeutig in den spannenden Diskussionen über Kunst und Künstler. Da ich für Charlie allerdings meistens Mitleid empfunden habe und das kein sehr angenehmes Gefühl ist, und da die Geschichte nur langsam in Fahrt kommt, ziehe ich ein Sternchen ab.