München im Mittelalter

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Eintauchen in die Familiengeschichte? Für viele von uns nicht ganz einfach. Man weiß zwar vielleicht noch, was die Großeltern und manchmal auch was die Urgroßeltern beruflich gemacht haben. Aber wenn man dann mal versucht, ein paar Jahrhunderte zurück zu gehen, dann werden die meisten von uns wahrscheinlich Schwierigkeiten bekommen, mehr über die Vergangenheit der eigenen Vorfahren herauszufinden. Nicht so Oliver Pötzsch. Seine Ahnen waren Henker, eine Henkerdynastie. Klar, auch Pötzsch kann nicht genau wissen, wie der Alltag seiner Ur-Ur-Ur-Ur-....Großeltern wirklich verlaufen ist. Doch immerhin hat ihnen spannende Geschichten angedichtet. „Die Henkerstochter und der Rat der Zwölf“ ist der siebte Streich seiner historischen Romanreihe. Und die führt den Autor und seine Leser ins Jahr 1672 nach Bayern.


Der Autor: Oliver Pötzsch
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Pötzsch ist Jahrgang 1970. Er war Filmautor beim Bayerischen Rundfunk, hatte aber auch eine Leidenschaft dafür, Geschichten zu erzählen. Inzwischen arbeitet er hauptamtlich als Schriftsteller, seine Frau hat einen festen Job, ist Redakteurin beim BR. Er kümmert sich um die Kinder – und schreibt. „Der Rat der Zwölf“ ist bereits der siebte Teil seiner Reihe dicker Wälzer rund um die Henkersfamilie Kuisl, der Pötzsch selber entstammt.


Ort und Zeit der Handlung
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Ein Stück weit habe ich es vorhin schon verraten: Der Roman spielt im 17. Jahrhundert. Die Einstiegsszene spielt sich Mitte dieses Jahrhunderts, nämlich 1649 ab, der Großteil der Handlung dann aber 1672. Hauptschauplatz ist dieses Mal München. Aber auch Schongau, die Heimat der Kuisls, spielt eine kleine Rolle.


Die Figuren
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**a) Magdalena, Henkerstochter:
Sie ist erwachsen, Mutter dreier Kinder (Peter, Paul, Sophia), verheiratet mit Simon Fronwieser. Und wie der Beiname schon sagt: Sie ist die Tochter des Henkers. Doch sie ist mehr als das, sie ist eine Frau mit einem Dickkopf, ist eigenständig – was für die damalige Zeit eher ungewöhnlich war. Sie führt Nachforschungen durch, löst zusammen mit ihrem Mann und ihrem Vater Kriminalfälle, hat den Mut, sich dafür auch in große Gefahr zu begeben.

**b) Jakob Kuisl, Henker
Er ist der Vater von Magdalena, hat außerdem die Zwilling Barbara und Georg. Jakob ist ein Riese von seinem Mann, kraftvoll, engagiert, einer, der sich um keinen Preis über den Tisch ziehen lässt. Auch er hat einen großen Dickkopf. Jakobs Frau ist inzwischen verstorben, auch ihm merkt man an, dass seine Kraft etwas nachlässt. Dabei ist er nach heutigen Verhältnissen „im besten Alter“, ich schätze so Mitte 50.

**c) Simon Fronwieser, Arzt
Der kleine, schmale Simon ist ebenfalls clever, hat sich als Arzt etabliert, ist mit Magdalena verheiratet. Er hilft ihr und ihrem Vater, manch kniffligen Kriminalfall aufzulösen.

** Peter
Ältester Sohn von Simon und Magdalena, er eifert seinem Vater nach, will Arzt werden.

**Paul
Zwei Jahre jünger als sein Bruder Peter, er hat seinen Großvater als Vorbild, ist ein Raufbold, ein Anführer, wirkt mutiger und stärker als Peter.

**Sophia
Die Tochter der Fronwiesers ist noch ein Baby, ist niedlich, hat aber einen Klumpfuß.

** Barbara
Schwester von Magdalena, eine Schönheit, die bei den Männern gut ankommt. Barbara wurde vergewaltigt, ist ungewollt schwanger. Ihr Vater Jakob weiß das zwar nicht, will sie aber dennoch unbedingt verheiraten.

**Georg
Sohn von Jakob, Zwillingsbruder von Barbara, lernt bei seinem Onkel ebenfalls das Henker-Handwerk, ist ein loyaler Bruder, wirkt aber weniger forsch und clever als seine beiden Schwestern.


Geschichte
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Jakob Kuisl soll endlich in den „Rat der Zwölf“, eine runde der bedeutendsten Henker, aufgenommen werden. Er will das feiern indem er seine ganze Familie mit nach München nimmt. Das könnte auch die Gelegenheit sein, seine jüngere Tochter Barbara endlich zu verheiraten. Er hat drei Kandidaten im Sinn: Einen betuchten Henkerkollegen, der sehr eingebildet ist, einen verwitweten Henkerkollegen, der Barbaras Vater sein könnte und einen Henkerssohn, der ein Säufer zu sein scheint. Und dabei weiß Jakob nicht einmal, dass Barbara schwanger ist. Das Geheimnis hat sie nur Magdalena anvertraut.
Kaum kommen die Kuisls in München an, wird ein Mordopfer gefunden: Ein junges Mädchen mit einem Medaillon, sie wurde hingerichtet. Und sie ist nicht das einzige Opfer dieser Art. Auch andere junge Frauen wurden grausam auf Henkersart getötet. War einer aus dem Rat der Zwölf der Täter? Vielleicht Hans, ein weißhaariger Mann mit roten Augen, der schon einmal auf übelste Art Barbara nachgestellt hat.
Der Gastgeber der Henkersrunde, Michael Deibler, lädt die Kuisls in sein Haus in der Stadt ein, Geigers Frau Waltraud kümmert sich direkt rührend um die Familie, schließt vor allem die kleine Sophia in ihre Arme und ihr Herz. Denn Waltraud selber ist kinderlos, hat sich aber immer eine Familie gewünscht.
Auch Arzt Simon hat Wünsche: Er möchte ein medizinisches Traktat einem gelehrten Münchener Doktor zeigen und er würde seinen Ältesten am liebsten auf einer Münchener Schule unterbringen. Beides gelingt mit viel Zufall: Simon wird an den kurfürstlichen Hof gebeten. Die Kurfürstin höchst selbst bittet ihn, den Schoßhund ihres Sohnes Max wiederzufinden. Gleichzeitig freundet sich Peter mit Max an – und macht sich schließlich selber auf die Suche nach dem Vierbeiner.
Jakob und Magdalena machen sich dagegen eher Gedanken über die toten Mädchen. Irgendwie scheint eine Weberei eine Rolle zu spielen. Magdalena schleicht sich dort ein, erfährt, unter welch schlimmen Bedingungen die jungen Frauen dort arbeiten müssen und dass sie obendrein auch noch als Prostituierte an reiche Münchner verkauft werden.
Sind die Betreiber dieser „Weberei“ also Schuld an den Mädchenmorden? Und welche Rolle spielen gefälschte Münzen in der Geschichte.

Oliver Pötsch gelingt es, historische Bruchstücke, die Familiengeschichte der Kuisls, die Krimigeschichte der ermordeten Frauen zusammen zu einem süffigen Ganzen zu fügen. Eine der Stärken der Geschichte ist, dass die allermeisten der Figuren interessant sind. Auch wenn die Perspektiven wechseln und man mal beim Peter ist, mal an der Seite von Simon, dann an der von Magdalena, so bleibt die Handlung doch spannend. Der Handlungsstrang der Jungen erinnert mich ein wenig an „Emil und die Detektive“ von Erich Kästner: Die Kinder nehmen es mit den Erwachsenen auf, schaffen es gemeinsam, ihre Stärken jedes einzelnen in die Waagschaale zu werfen und damit die Großen und vor allem die Bösen auszuschalten.
Außerdem hat Pötzsch die eine oder andere Überraschung parat. Manchmal vermutet man zwar, dass bestimmte Figuren nicht so ganz sauber sind. Doch vor allem zu Ende hin nimmt die Geschichte dann doch noch einmal eine unerwartete Wendung.

„Die Henkerstochter und der Rat der Zwölf“ lässt sich wirklich gut weglesen, egal ob im Urlaub, nach Feierabend in der Couch, als Überbrückung bei der Fahrt zu Schule, Uni oder Arbeit. Ich bin schon jetzt gespannt darauf, wie Pötzsch die Geschichte der Kuisls/Fronwiesers fortschreibt. Von mir gibt es fünf Sterne und eine Empfehlung.


P.S.: Eigentlich gehöre ich zu den Leuten, die ein Buch in der Hand lieben. Im Buch war ein gelber Streifen, ein Lesezeichen von „Papego“. Dahinter verbirgt sich eine App, mit der man eine Buchpassage fotografieren kann. Danach werden die nächsten rund 200 Seiten der Geschichte in die App geladen – und man kann auch ohne das Buch unterwegs weiterlesen. Das ist wirklich eine tolle Ergänzung. Allerdings gilt es aufzupassen: Wenn man länger unterwegs ist, kann man mitten in der Geschichte stecken bleiben. Denn Papego zieht nicht das ganze Buch als E-Book sondern eben nur einen Teil. Man sollte das Buch also noch griffbereit haben, um das Ende nicht zu verpassen.