Ein Annäherungsversuch an eine Rezension

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aennie Avatar

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Ich habe „Die Herzen der Männer“ gestern Abend zu Ende gelesen, und seitdem denke ich darüber nach, was ich in diese Rezension hineinschreiben möchte. Wie ich ausdrücken soll, was ich glaube, was Nickolas Butler sagen möchte. Und ob er das sagen möchte, was ich glaube, dass er sagen möchte. Klingt schwierig, ist es auch. Und da sich die Antwort auf diesen letzten Teilsatz in den letzten Stunden bereits mehrfach geändert hat, versuche ich mich dem ganzen mal ganz vorsichtig irgendwie zu nähern, vielleicht gelingt eine Art Intervallschachtelung, um zum Kern vorzudringen, näher hin zu den „Herzen der Männer“.
Relativ harmlos dürfte doch ein solcher Beginn sein – Zum Inhalt, sinnvoller erscheint mir jedoch – Zum Aufbau: Nickolas Butler beleuchtet sein Thema in drei verschiedenen Zeitstellungen (1962-1996-2019), mit dem Fokus auf jeweils einem anderen Protagonisten, bzw. einem Protagonistenpaar bestehend aus Sohn und Elternteil. Wobei alle Protagonisten zum gleichen Kosmos gehören, „sich kennen“ und keine Beschränkung auf jeweils nur eine Perspektive stattfindet. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die gemeinsame Zugehörigkeit der (männlichen) Protagonisten zu einem Pfadfinderstamm in Wisconsin und die Teilnahme am Sommerlager in Camp Chippewa. Dort ist es die Regel, dass die Väter ihre Söhne begleiten. Den Beginn macht die Geschichte mit dem 13-jährigen Nelson, einem Außenseiter wie er im Buche steht. Als Signaltrompeter nimmt er ohnehin schon eine herausgehobene Stellung ein, zudem ist er strebsam, erfolgreich im Abzeichen sammeln, egal ob es um das Bestimmen von Vögeln anhand ihrer Stimme oder die Zubereitung eines gleichmäßig durchgebackenen Pfirsichauflaufs geht. Das führt dazu, dass Nelson ein Zelt für sich alleine hat, alleine beim Essen sitzt und sogar sein Vater und Jonathan, der einem Freund noch am nächsten kommt, eigentlich nichts mit ihm zu tun haben wollen und Nelson die typische Opferrolle in dieser Gruppe einnimmt. Da nützt es auch nicht viel, dass der Leiter des Camps Wilbur Whiteside ihm prophezeit, dass er viele der anderen im Leben einfach überflügeln wird, da mehr in ihm steckt. Im zweiten Teil stehen dann Nelsons Freund Jonathan und dessen Sohn Trevor im Mittelpunkt. Nelson nimmt hier eine zwar wichtige, aber eben nur eine Nebenrolle ein. Er ist mittlerweile Wilbur Whiteside als Leiter von Camp Chippewa gefolgt, hat als Green Beret in Vietnam gedient und nach einer ziellosen Phase nach seinem Militärdienst hier eine Aufgabe gefunden. Dieser Teil schildert vor allem die Konflikte zwischen Jonathan und Trevor am Vorabend des jährlichen Sommercamps. Im dritten Teil steht wiederum eine nächste Generation, Trevors Sohn Thomas gemeinsam mit einer Begleitperson (ich möchte das hier einfach nicht spoilern) im Fokus der Betrachtung. Es wird Nelsons letztes Sommerlager sein, bevor er sich in den Ruhestand verabschiedet. Es ergeben sich ganz neue Problematiken, teilweise aus der Zeit, teilweise aus gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen.
Soweit zum reinen Inhalt. Aber um was geht es eigentlich? Es geht um Rollen, es geht um Pflicht und Verantwortung, es geht um Gruppen und Gruppendynamik, Verlust und Traumatisierung. Es geht um Söhne, Väter – und Mütter. Unterschiedliche Typen von Männern, die sich über die Jahrzehnte hinweg in ihren Verhaltensweisen gleichen und wie sie mit denen umgehen, die sich davon unterscheiden. Es geht darum, dass nicht nur Genetik, ein Y-Chromosom entscheidend ist. Clete Doughty, Jonathan Quick, Dr. Platz versus Wilbur Whiteside, Nelson Doughty, Trevor Quick. Nicht die raubeinigsten unter Ihnen werden zu den großen Kriegshelden, den erfolgreichsten Familienvätern oder zufriedensten Männern, aber werden es die anderen statt ihrer? Gibt es das überhaupt? Wie schwer bekommen diese Männer es gemacht, durch die Ihnen zugedachten, anerzogenen oder selbst gewählten Rollen als Anführer, Vorbilder, Soldaten, harte Kerle? Wie ist ihr Frauenbild davon abhängig und wie hängt es mit dem Glücken oder Scheitern von Beziehungen zusammen? Wie wichtig sind die Mütter, sowohl an sich als auch als Komponente der Vater-Sohn-Beziehungen? Fragen über Fragen, die ganz sicher nicht nur in den Herzen der Männer schlummern. Aber ich glaube auch nicht, dass sich die Antworten darin verbergen. Und ich glaube, dass ich auch noch weiter darüber nachzudenken habe.
Fazit: nicht nur eine der schwierigsten Rezensionen seit langer Zeit sondern auch eines der komplexesten Bücher, das ich seit langem gelesen habe. Eines über das man ein halbes Seminar abhalten könnte, ohne dass es den Anschein erweckt ein solches Buch zu sein, das nur zu diesem Zweck verfasst wurde. Es ist kein bisschen anstrengend zu lesen, es ist ruhig, schildernd, beobachtend, nicht beeinflussend. Ich hatte selten das Gefühl bei einem Buch so auf mich selbst gestellt zu sein, in dem was ich darüber denke und was ich für mich daraus schließen werde, und das ohne, dass ich es mir so vorkommt, als sei es mir lieber gewesen Nickolas Butler hätte das für mich entschieden. Groß!! Lesen!! Jeder!! Männer und Frauen!!