Man muss einfach hinsehen

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gracejones Avatar

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Zugegeben, beim Lesen des Prologs war ich recht schnell versucht das Ganze vorschnell zu den sprichwörtlichen Akten zu legen.
Mal ehrlich: Der unterwürfige Laierspieler zu Fuße der engelhaften, unerreichbaren Herrin. Davon haben wir doch schon zu Schulzeiten mehr als genug gehört. Und dann noch diese Personenbeschreibungen! Die Frau mit den engelhaften Gesichtszügen und den "hüftlangen, goldenen Haaren". Als wolle die Autorin mit aller Kraft verhüten, dass man sich diese hohe Dame auch nur eine Sekunde vorschnell z.B. brünett vorstellen könnte. Oder weniger engelhaft. Da wird mit diesen überdetaillierten, grob in den Erzählverlauf eingeflickten Personenbeschreibungen regelrecht auf einen eingeprügelt. Und noch dazu wirkte die Handlung flach und comicartig...
Bis sich dieser klischeehafte Laienspieler dann vor der Wanne hinkniet und sich daran macht das benutzte Badewasser seiner Herrin zu trinken. Man schüttelt kurz den Kopf und fragt sich für einen Moment "Stand das da wirklich?".
Und schon ertappt man sich dabei, wie man weiterliest.

Wir begegnen nun der drallen Hure Rosi. Auch hier wird einem Rosis Aussehen beinahe aufgezwungen. Man kapiert also recht schnell, dass Rosi eine derbe, beleibte, routinierte Hure ist. Die Figur selbst gibt sich auch alle Mühe dies mit einer unflätigen Ausdrucksweise kundzutun. Das mag natürlich möglicherweise durchaus der geläufige Umgangston in mittelalterlichen Bordellen gewesen sein. Aber sicher ist man da dann doch nicht. Man ist recht schnell übersättigt von Rosis grober Ausdrucksweise, sodass einen der tatsächliche Akt zwischen Rosi und einem stinkenden Landgänger nicht wirklich schrecken kann. Natürlich ekelt man sich. Aber daran hat man sich bis dato fast schon gewöhnt.

Und als der stinkende Freier Rosi dann den Auftrag für einen ganzen Gulden erteilt, sie möge sich doch des Nachts mit einem Wildfremden am Stadttor zu einem Stelldichein treffen, da weiß man eigenlich schon recht genau, was passiert. Gemäß der Schreckensvision, die jede gute Mutter beizeiten vor ihren Töchtern ausbreitet, derzufolge man niemals mit einem Fremden mitgehen soll, auch wenn dieser mit Naschereien lockt, tut Rosi genau das. Sie als erfahrene Hure hätte es besser wissen müssen. Der Wildfremde ködert sie mit Geld, packt sie, reitet mit ihr in ein Waldstück und...hier bricht die Leseprobe leider ab.
Der Klappentext hat jedoch längst verraten, was man ohnehin leicht selbst hätte erraten können: Rosi wird hier umgebracht.

Erschrecken tut es einen nicht gerade. Man hat es kommen sehen. Ist versucht sich "selber schuld" zu denken und mit den Schultern zu zucken. Aber all das soll ja lediglich der Auftakt sein. Wir befinden uns hier nämlich nicht in einem bildgewaltigen Mittelalter-Epos - zumindest nicht vorläufig - sondern in einem Krimi. Und die Rolle des Detektiven soll "Hurenkönigin" Ursula spielen. Nun, bildgewaltiger als die allsonntäglichen Tatort-Folgen verspricht die Mittelalterversion zumindest zu werden. Für Kopfkino war ja bereits in der Leseprobe gut gesorgt. Und mag man auch noch so sehr über der nichtendenwollenden Flut der derben Ausdrücke den Kopf schütteln - irgendwie muss man ja doch hinsehen und weiterlesen.

Mich zumindest hat der ruppige Auftakt neugierig auf das Buch gemacht. Natürlich sollte man hier "Mittelalter" nicht mit der Welt in den Märchen verwechseln, was heutzutage doch ganz gerne getan wird. Wenn man der rauhen, stinkenden, schmutzigen Seite des Mittelalters trotzen kann und auch die derben Dialoge aus der Feder der Autorin als Zuckerguss obendrauf gut vertragen kann, dann ist dieser Blick auf den Mittelalter-Tatort sicher interessant.

Interessant vor allem auch die Fakten, mit denen die Story reich geschmückt ist. Man merkt, dass die Autorin Geschichte studiert hat. Dieser Umstand kommt dem Roman ungeheuer zu Gute, macht die ganze Sache glaubhafter. Gerade dann, wenn man wieder kurz davor ist den Kopf zu schütteln und sich einzureden, dass die Autorin hier nur ihre unflätige Seite austoben wollte. Es scheint in jedem Falle, als ob sich hier das Hinschauen lohnt.