Die verlorenen Koffer

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Dies wäre wieder eines der Bücher, bei denen man angesichts des vom Verlag gewählten deutschen Titels nur mit dem Kopf schütteln kann. Dieser heißt selten dämlich "Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz" und hat mit dem Inhalt des Buches nur soviel gemein, dass tatsächlich Gabriel Delacruz, die, wenn auch vorwiegend abwesende Hauptperson, als Umzugsfahrer quer durch Europa unterwegs ist. Aber was ist an den Fahrten irre? Leider quer durch alle Verlage ist diese Sitte verbreitet Orginaltitel - hier:Die verlorenen Koffer- nicht zu über-setzen, sondern durch alberne neue zu er-setzen. Ärgerlich! Denn die verlorenen Koffer ziehen sich als Motiv durchs ganze Buch. Sie werden von den drei Freunden, die die Umzugsmannschaft bilden, bei jedem ihrer Einsätze von dem zu transportierenden Mobiliar abgezweigt und untereinander aufgeteilt. Dabei geht es weniger um deren materiellen Wert, sondern vielleicht eher darum, an den fremden Leben teilzuhaben. Denn zwei der Freunde, darunter auch Gabriel Delacruz, sind Waisen, die nie etwas wie Familie, eine eigene Wohnung kennengelernt haben und auch als Erwachsenen Probleme haben, irgendwo Fuß zu fassen. Bei Gabriel äußert sich das darin, in vier Ländern mit vier verschiedenen Frauen je einen Sohn zu haben, Christof, Christopher, Christohe und Cristofol. Sein Freund Bundo liebt wiederum eine Prostituierte, die sich ihrerseits mit Nähe schwer tut. Unverbrüchlich ist dagegen die Freundschaft und Treue der beiden Freunde zueinander. Deshalb trifft Gabriel der Unfalltod Bundos auf einer der Umzugsfahrten sehr schwer. Er zieht sich aus dem Umzugsgeschäft zurück und bricht auch allen Kontakt zu seinen Familien ab. Und wieder ist es ein verlorener Koffer, der ihn dann mit Rita, der vierten Frau in Barcelona zusammenbringt. Erzählt ist die ganze Geschichte von den vier Brüdern, die erst nach dem endgültigen Verschwinden des Vaters, alle nun schon zwischen 30 und 40, voneinander erfahren, sich ihre Geschichten erzählen, versuchen zu ergründen, wer ihr Vater tatsächlich war und ihn schließlich auch aufzuspüren. Es helfen ihnen dabei die Mütter, der Freund Petroli, die Freundin Bundos. Dies geschieht oft in der Wir-Perspektive, manchmal erzählt auch einer der Christofs allein. Das geschieht mal mehr oder weniger überzeugend.
Das ganze liest sich recht gut, ist locker und fantasievoll geschrieben. Dennoch kommen die Personen einem nicht wirklich nahe. Warum z.B. sich vier junge Frauen Knall auf Fall in Gabriel verlieben und aus jeder dieser einmaligen Begegnungen sofort ein Sohn entspringt, blieb mir nicht ganz schlüssig. Aber gut, solche Dinge sollen vorkommen. Einmal, ziemlich am Ende des Buches, schreibt der Autor: "Wir glauben die Leute zu kennen, die uns umgeben, und ihre Gefühle einschätzen zu können, aber da täuschen wir uns gewaltig. Das Innenleben eines Menschen ist das bestgehütete Geheimnis der Welt,... Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst - das, was wir jeden Tag konstruieren, ohne uns dessen bewusst zu sein. Darum haben die meisten Situationen, während wir sie erleben, keine besondere Bedeutung. Das Trugbild des Sinns kommt erst nachträglich. Wir sitzen in einem Café, reden mit einem Freund und rechtfertigen in der Rückschau unsere Vergangenheit. Ordnen sie. Aus der Notwendigkeit, unser Leben zu verstehen, machen wir eine Tugend....Wir reduzieren unser Leben auf ein paar Worte, wir vereinfachen es unentwegt, dabei liegt sein wirklicher Sinn in der Komplexität, Widersprüchlichkeit, Ungewissheit." Gleich darauf bittet er "um Nachsicht für unseren philosophischen Anfall." Keine Entschuldigung, sondern mehr solcher kluger und tiefergehender Passagen hätte ich mir aber zu diesem Buch gewünscht. Eben damit es nicht einfach irgendwelche "irren Fahrten" eines schrägen Typs sind, sondern Ausdruck eines eigentlich sehr einsamen, vielleicht gescheiterten Lebens eines schon als Kind verlassenen Mannes, der es nicht geschafft hat, auch seinen Söhne dieses Erfahrung des Verlassenwerdens zu ersparen.