Geheimnisvoller Lebensweg eines Findelkindes

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
theresia626 Avatar

Von

Der Roman von Jordi Puntí „Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz“ erzählt die Geschichte von Gabriel Delacruz-Expósito, der als Trucker seit den frühen 60er Jahren mit seinen beiden Freunden Bundó und Petroli Europa bereiste und dann vor über dreißig Jahren plötzlich (und) ohne Erklärung aus dem Leben seiner Kinder und ihrer Mütter verschwindet.

Die Erzählung beginnt mit den Erinnerungen von Christof, Christophe, Christopher und Cristòfol. Sie haben alle den gleichen Vater, den flüchtigen Gabriel, jedoch vier unterschiedliche, skeptische Mütter und leben in Frankfurt, Paris, London und Barcelona. Das letzte Mal sahen sie ihren Vater, da waren sie 6, 4, 3 und zwei Jahre alt. Jetzt, 30 Jahre später, spielt Christof Theater, Christophe ist Dozent für Quantenphysik, Christopher hat einen Stand auf dem Markt und Cristòfol ist Übersetzer aus dem Französischen. Kennenlernen tun sich die Halbbrüder durch Zufall, und zwar weil ihr Vater seit über einem Jahr nicht mehr für die Kosten seiner Wohnung in Barcelona aufkommt. Die Polizei nimmt Kontakt zu Cristòfol auf, der zufälligerweise ganz in dessen Nähe wohnt. Er ist es, der in der Wohnung seines Vaters die Geburtsurkunden seiner Halbbrüder findet und ein Zusammentreffen organisiert. Dem ersten Treffen folgen alle fünf Wochen weitere, bei denen die Christofs in mühevoller Kleinarbeit versuchen, das Leben ihres Vaters von der Geburt an zu rekonstruieren. Sie wollen herausfinden, ob ihr Vater noch lebt und wo er sich aufhält. Gabriel wächst, nachdem ihn seine Mutter ausgesetzt hat, in einem Waisenhaus auf und ist seit frühester Jugend mit Bundó befreundet, der gleichfalls in dem Waisenhaus lebte. Beide fühlen sich wie Brüder miteinander verbunden. Bundós Vater ist ein Opfer des Franco-Regimes, seine Mutter wird wahnsinnig und stirbt Jahre später. Dank der Oberin des Waisenhauses schaffen es die beiden Freunde, als Jugendliche in dem Umzugsunternehmen La Ibérica Fuß zu fassen. Sie ziehen beide für mehrere Jahre in die billige Pension von Natàlia Rifà. Bundó, Gabriel und ihr Arbeitskollege Petroli werden später zu Piraten der Straße und behalten von jeder der insgesamt 199 gemeinsamen Umzugsfahrten eine Art Pfand zurück. „Eine Kiste, eine Tasche, einen Koffer, den sie heimlich abzweigten und dessen Inhalt sie untereinander aufteilten.“ (S. 66) Die Umzugsfahrten werden für Gabriel eine Verbindung zur Welt, er kann seine Freiheit genießen und seine Söhne in unregelmäßigen Abständen besuchen. Gabriel sagte einmal: „Wenn ich eines Tages verschwinde, sucht mich in Paris“,… (S. 259), ein irreführender Hinweis, wie sich später herausstellt.

Die vier Einzelkinder befragen ihre Mütter, alte Freunde und frühere Arbeitskollegen von Gabriel, Carolina, die Verlobte seines Freundes Bundó und die Pensionswirtin Rifà. Es ist eine Reise durch das Leben des Protagonisten, der viele Jahre für das Umzugsunternehmen La Ibérica gearbeitet und mit dem Pegaso (in Anspielung auf Pegasos, in der griechischen Mythologie ein geflügeltes Pferd) auf den Straßen kreuz und quer durch Europa unterwegs war und nie richtig sesshaft wurde.

Aufgeteilt ist Jordi Puntís Roman „Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz“ in zwei große Kapitel. Der Autor nennt sie Aufbrüche und Ankünfte und sie umfassen das Leben des Protagonisten vor und nach dem verhängnisvollen, schicksalhaften Ereignis. Schauplatz eines Großteils der Geschichte ist Barcelona in den frühen 60er und 70er Jahren. Der Roman ist anspruchsvoll, leidenschaftlich, erzähltechnisch und inhaltlich interessant. Der Leser fühlt sich in verschiedene Situationen hineinversetzt, weil der Erzähler versucht, ihn mit in die Geschichte aufzunehmen, so als wäre er Teil der Gruppe verlorener Söhne. Das geschieht an den Stellen, wo der Erzähler in den Plural wechselt und der Leser von der Sichtweise des Erzählers beeinflusst wird. Das regt an weiterzulesen. Allerdings verlangt der Autor durch die ständig wechselnden Erzählperspektiven jedes einzelnen Erzählers, ihr jeweiliges Solo, dem Leser unendlich viel Geduld ab. Dies auch deshalb, weil jeder von ihnen in seinem eigenen Kapitel erzählt, was er erzählen will.

„Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz“ ist ein Abenteuerroman, eine Geschichte über Vater und Söhne, über die Suche nach der eigenen Identität und über eine tiefe, lebenslange Freundschaft, die nur ein schreckliches Unglück zu beenden vermochte, über Seelenverwandte, wie man sie selten im Leben findet. Besonders gut gefällt mir die Verbindung von privatem Schicksal und Lehrstunde über Franco-Spanien, das mehr als dreißig Jahre nach Ende der Diktatur aus dem Blickfeld geraten ist. Trotz einiger Längen hat mir der Roman gut gefallen.