Vier Söhne und kein Vater

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mazapán Avatar

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Jordi Puntí, der in Barcelona lebende katalanische Schriftsteller, ist mittlerweile nicht nur in Spanien sondern in ganz Europa bekannt. Seine Bücher, ursprünglich in Katalanisch geschrieben, werden in mehrere Sprachen übersetzt.
Einer seiner bekanntesten Romane erschien in der spanischen Übersetzung unter dem Titel "Maletas perdidas" (deutsche Ausgabe: "Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz"). "Maletas perdidas" bedeutet "vermisste Koffer". Und diese vermissten Koffer spielen eine wichtige Rolle in diesem Buch.
Aber bevor Puntí uns bis zu diesen vermissten Koffern führt, erzählt er uns eine verrückte Geschichte, die aber - wer weiß - vielleicht im echten Leben hätte passieren können: Ein Mann hat vier Söhne, in ganz Europa zerstreut, und sie wissen nichts von der Existenz der anderen.

"Maletas perdidas" ist die Geschichte dieses Mannes. Die Geschichte konnte nur dann erzählt werden, als sich diese Brüder kennenlernten und sich auf die Suche ihres Vaters begaben, eines Fremden, denn dieser Vater verschwand gleichzeitig aus dem Leben seiner Söhne, Jahrzehnte vorher.
Ganz viel Recherchearbeit betreiben diese Söhne, um so viel wie möglich darüber zu erfahren, wer ihr Vater war. Was sie herausfinden, sind herzliche aber auch dramatische Geschichten, die hauptsächlich in dem Spanien der 50er und 60er Jahre stattfinden, einem Land, das unter der harten Regierung des Diktators Francisco Franco gelitten hat.
In einem Land, das von der Welt abgeschnitten war, fand Gabriel Delacruz als Fahrer eines internationalen Umzugsunternehmens die einmalige Gelegenheit, Europa zu bereisen, und diese Chance hat er offensichtlich gut genutzt. Vier Frauen und vier Söhne wurden das Ergebnis.

Durch Wir-Erzählung hat Puntí die Brüder vereinigt, der Leser bekommt den Eindruck, alle vier fühlen das Gleiche und auch gleich intensiv. Da sie ohne Vater aufgewachsen sind, teilen sie ein gemeinsames Schicksal. Diese für mich seltene Form des Erzählens hatte als Folge, dass ich keine tiefere Verbundenheit zu einem der Brüder spüren konnte, sondern sie alle wie eine Einheit empfunden habe.
Auch Gabriel Delacruz blieb mir die ganze Zeit fern, obwohl er die zentrale Figur des Romans ist. Das habe ich keinesfalls als negativ wahrgenommen, weil so das Enigmatische an dieser Schlüsselfigur betont wurde. Das, was die Söhne fühlen, soll der Leser auch fühlen: Gabriel Delacruz ist ein Fremder. Der Wunsch, mehr und mehr über diesen Fremden zu erfahren, ist die treibende Kraft bei den Brüdern und das Band zwischen ihnen, das mit der Zeit immer stärker wird.
Da Gabriels Söhne alles über ihren Vater aus dritter Hand erfahren, muss der Leser ein paar Geschichten über sich ergehen lassen. Auch wenn die meisten dieser Geschichten originell und lustig waren, und den Zweck erfüllten, Gabriel noch geheimnisvoller zu machen, hätte ich lieber eine kürzere Version von ihnen gehabt.

Insgesamt hat mir "Maletas perdidas" sehr gut gefallen. Durch die unzeremonielle Art Puntís ist dieses Buch, trotz ein paar trauriger Schicksale, die es beherbergt, ein großer Spaß gewesen.