Vom Verlieren und Finden

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buecherfan.wit Avatar

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In Jordi Puntis Roman “Die irren Fahrten des Daniel Delacruz (im Original “Maletes perdudes”, was so viel heißt wie “Verlorene Koffer”) geht eine Menge verloren: Reisegepäck am Flughafen von Barcelona, Umzugskisten bei der Spedition La Ibérica, sogar Menschen.

Eines Tages wird Gabriel Delacruz Expósito vermisst gemeldet, nachdem der Vermieter seit langem keine Mietzahlungen mehr erhalten hat. Die Polizei macht seinen in Barcelona lebenden Sohn Cristòfol ausfindig, der seit etwa 30 Jahren nichts mehr von seinem Vater gehört hat. In der Wohnung seines Vaters findet er einen Zettel mit vier Varianten des Namens Christof mit unterschiedlichen Nachnamen und erfährt auf diese Weise, dass er drei Halbbrüder hat: Christof in Frankfurt, Christopher in London und Christophe in Paris. Ihr Vater hatte den Kontakt zu ihnen und ihren Müttern abgebrochen, als die Söhne 6, 4, 3 und 2 Jahre alt waren. Die Vier beschließen, den Vater zu suchen und das Geheimnis um sein Verschwinden zu lüften.

In Hunderten von Geschichten rekonstruiert der Autor das Leben seines Protagonisten und geht dabei zurück bis in die ersten Stunden seines Lebens, als er auf einem Markt in Barcelona von seiner Mutter ausgesetzt und von einem Fischhändler und seiner Frau gefunden wurde. Er wuchs in dem katholischen Waisenhaus Casa de la Caritat auf und lernte dort als Kind Bundó kennen, der wie ein Bruder für ihn wurde. Beide verlassen als Teenager das Heim und arbeiten für den Spediteur Casellas. Sie wohnen jahrelang zusammen in einer einfachen Pension in Barcelona.

Erzählt wird aus wechselnder Perspektive auf verschiedenen Zeitebenen. Die vier Christofs tragen zusammen, woran sie sich erinnern und ergänzen die Erinnerungsstücke durch die Erzählungen ihrer Mütter. Außerdem kommt eine Vielzahl von Personen zu Wort, die irgendwann Kontakt zu Gabriel hatten: der befreundete ältere Kollege Petroli, die Pensionswirtin Frau Rifà, Bundós Verlobte Carolina, seine letzte Nachbarin, die ehemalige Trapezkünstlerin Giuditta… Es ergibt sich das Bild einer schillernden Persönlichkeit - Lügner, Schauspieler, Dieb, Trickbetrüger beim Pokerspiel - und eines Mannes, der kein normales, sesshaftes Leben führen, sich für keine der vier Familien entscheiden konnte. Er ist geprägt, um nicht zu sagen vorgeschädigt durch seine eigene Kindheit. Außerdem hat ihn im Jahr 1972 eine schreckliche Tragödie völlig aus der Bahn geworfen und sein Leben für immer verändert.

Der Leser folgt gemeinsam mit den Brüdern den Spuren dieses Mannes und wird am Ende mit der ein wenig unspektakulären Auflösung des Rätsels belohnt. Der ungeheuer detailreiche Roman hat einige Längen, versöhnt den Leser aber durch sein sprachliches Niveau. Die Sprache des Autors ist metaphernreich und witzig (“Das Schicksal, verspielt und gewissenlos wie ein Hundewelpe, verschlug Gabriel und Bundó in eine billige Pension.” S. 94), wobei allerdings einige Unebenheiten in der Übersetzung störend auffallen. 

Gut gelungen ist dem Autor auch das authentische Porträt des Landes unter Franco. Nur durch seinen Beruf gelingt es Gabriel, der Enge der Franco-Ära wenigstens zeitweise zu entkommen, während er in Europa mit dem Möbelwagen unterwegs ist. Der Autor lässt eine Reihe von kritischen Anmerkungen einfließen, zum Beispiel wenn er darauf hinweist, dass zu Francos Lebzeiten wegen der Unterdrückung der katalanischen Sprache vor allem in den frühen Jahren der Diktatur nur der Name Cristóbal möglich war, nicht aber Cristòfol: Ortsnamen wurden hispanisiert, Personennamen ins Spanische übersetzt.

Fazit. "Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz" ist ein empfehlenswerter Roman für Leser mit entsprechendem Interesse sowie Zeit und Geduld.