Mein Lesehighlight des Sommers 2022

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
gaudbretonne Avatar

Von

Sich durch unterhaltende Fiktion den zentralen Fragen der deutschen Geschichte stellen? Der Frage nach Schuld nachgehen? All das und noch vieles mehr leistet der neue Roman von Alexa Henning von Lange:

In „Die karierten Mädchen“, dem ersten Teil einer Trilogie, möchte die 90-jährige Klara zum Ende ihres Lebens ihre Lebensbeichte ablegen, um erhobenen Hauptes sterben zu können. Hierzu setzt sie sich mit ihrer lange verdrängten Vergangenheit im Nationalsozialismus auseinander und bespricht dazu Kassetten mit ihrer Lebensgeschichte. Auf diese Weise hinterlässt sie der Nachwelt ein Stück gelebte Zeitgeschichte und ermöglicht es dem Leser auf herzergreifende Weise, sich mit Fragen der Schuld auseinanderzusetzen, denn scheinbar ist nicht alles schwarz oder weiß.

Während des Nationalsozialismus wurde die Protagonistin zufällig Leiterin eines Kinderheims in Oranienbaum und erlebt dadurch hautnah die gesellschaftlichen bzw. politischen Entwicklungen sowie deren unmittelbare Folgen, ohne sich jedoch damit vertieft auseinandersetzen zu wollen.

Im Laufe der Lektüre lernt der Leser die junge Klara immer besser kennen. Es handelt sich um eine sympathische und ebenso pragmatische Person, die ohne an die Folgen zu denken, ein jüdisches Mädchen als ihre Tochter ausgibt. Dies ist an sich bereits ein heldenhafter Akt, er geschieht zudem aber direkt unter der Aufsicht der Nazis. Denn aufgrund von Klaras kompetentem und leidenschaftlichem Einsatz mausert sich das Heim schnell zu einer Vorzeigeinstitution, in der junge Frauen auf ihre Rolle in der völkischen Gemeinschaft vorbereitet werden. Es ist vorprogrammiert, dass dies nicht lange gut gehen kann. Eines Tages wird Klara vor eine folgenschwere Entscheidung gestellt, die sie ihr Leben lang – trotz verschiedener Verdrängungsstrategien - belasten wird….

Alexa Henning von Lange hat in Anlehnung an wahre Erfahrungen ihrer Großmutter einen Plot kreiert, der den Leser mit auf eine Reise in das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte nimmt und ihn von Seite 1 bis zum Ende nicht mehr loslässt. Kritiker mögen hier argumentieren, dass die Autorin sich an der ein oder anderen Stelle dramaturgischer Tricks in Bezug auf die Handlung bedient hat, die so in der Realität kaum möglich gewesen wären. Aber gerade die daraus entstandene Handlung gestattet es, sich intensiv mit der Frage nach Schuld auseinanderzusetzen und fokussiert eine Gesellschaftsgruppe, die nach der Vogelstraußtaktik den Kopf in Bezug auf die politische Situation im Hitler-Deutschland in den Sand gesteckt hat. Eine Reflexion über das Verhalten einer ganzen Gesellschaftsgruppe wird so jedoch erst angestoßen.

Gefesselt von starken Persönlichkeiten - allen voran die junge Klara –, einem überzeugenden Handlungsgerüst und einem bemerkenswerten Stil, ist es letztlich schier unmöglich, das Buch aus der Hand zu legen. Einziger Wermutstropfen ist das offene Ende. An der scheinbar spannendsten Stelle bricht die Handlung serientypisch einfach ab. Daher kann ich das Erscheinen des zweiten Bandes kaum erwarten.