Verpasste Chance

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bücherfreund54 Avatar

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Was für eine Chance. Die Schriftstellerin Alexa von Hennig-Lange findet auf dem Dachboden 130 von ihrer Großmutter besprochene Kassetten. Die Großmutter stellt darauf ihr Leben in der Zeit zwischen 1929 und 1945 dar, in der sie zunächst in einem Kinderheim gearbeitet und es dann später auch geleitet hat. Um das finanzielle Überleben des Kinderheimes zu gewährleisten, kollaboriert die Großmutter mit den Nazis und übernimmt die Erziehungsziele der Nazis bei der Erziehung ihrer Schößlinge. Alexa von Hennig-Lange macht aus der Erzählung der Großmutter einen Roman und füllt Leerstellen in der Erzählung der Großmutter, wie sie selbst in einem Interview äußert. Da ist zunächst ein völlig legitimes Verfahren der Literatur, der es primär nicht darauf ankommt, pure Fakten zu liefern. Literatur hat immer auch die Möglichkeit darzustellen, wie es auch hätte gewesen sein können. Von Hennig-Lange verzichtet auf diese Möglichkeit. Sie stilisiert vielmehr die Großmutter zu einer harmlosen Mitläuferin, die innerlich zwar gegen die Nazis protestiert, ihr Handeln aber gemäß dem „Zwang der Verhältnisse“ nicht danach ausrichtet. Von Hennig-Lange geht sogar noch einen Schritt weiter und erfindet eine „Heldentat“ der Großmutter, in dem sie ein jüdisches Mädchen als ihre eigene Tochter ausgibt, es dann aber, als die politischen Verhältnisse immer schwieriger werden, in ein jüdisches Kinderheim gibt. Folgt man dieser Darstellung, hat es in Deutschland eben keine Täter, sondern nur Mitläufer gegeben.
Auch erzähltechnisch ist der Roman wenig überzeugend. Jede, aber auch jede innere Regung wird offen gelegt, ein Deutungsspielraum ist nicht vorgesehen. Dem Leser wird alles präsentiert, seine Haltung kann nur eine rezeptive sein.
Ein spannender Roman hätte entstehen können, wenn denn Alexa von Hennig-Lange wirklich die Auseinandersetzung mit ihrer Großmutter gesucht und ausgelotet hätte, welche Handlungsmöglichkeiten es jenseits aller politischen Verhältnisse gegeben hätte.