Wenn Erinnerungen erzählt werden wollen

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
petris Avatar

Von

Klara ist jung und freut sich sehr, dass sie trotz Wirtschaftskrise eine Anstellung als Haushälterin und Haushaltungslehrerin in einem Heim für Kinder mit TBC gefunden hat. Denn nicht nur ist ihr ihre eigene Unabhängigkeit sehr wichtig, sondern sie steht auch unter Druck. Die Pension ihrer Eltern läuft schlecht, sie sind auf ihr Einkommen angewiesen.
Das Heim scheint ihr ein kleines Paradies. Es liegt idyllisch, sie liebt ihre Arbeit, findet schnell in ihrer Kollegin Susanne eine gute Freundin, Klara ist glücklich. Und dann macht sie etwas, was die ordentliche, zuverlässige Klara selbst überrascht. Von der Fürsorge wird ein kleines jüdisches Baby bei ihnen abgegeben, die Mutter könnte es nicht versorgen, sei auf Arbeitssuche. Doch es gibt kein Geld für dieses Mädchen. Klara verliebte sich sofort in Tolla. Und als deren Mutter nicht mehr auftaucht, beschließt sie, Tolla im Heim zu behalten, dessen Leitung sie bald darauf übernehmen sollte. Doch die Zeiten ändern sich. Klara muss sich entscheiden. Das Heim aufgeben? Ihre Familie nicht mehr unterstützen können? Tolla verlieren? Oder mit den neuen Machthabern zusammenarbeiten? Tollas wahre Identität geheim halten? Konnte das gut gehen? Vielleicht waren die Nationalsozialisten ja gar nicht so schlimm?
Viele Jahrzehnte später, Klara ist über 90, verwitwet und blind, taucht diese lange vergessene, gut verdrängte Zeit wieder in ihren Gedanken auf. Und Klara hat einen Plan. Sie beginnt zu erzählen und ihre Geschichte auf Tonband aufzunehmen.
Als ich zu lesen begann, war ich ehrlich gesagt etwas überrascht über die Sprache und den Aufbau dieses Romans. Der ist nämlich recht klassisch. Den Rahmen bilden Episoden mit der alten Klara, rund um ihren Alltag. Dazwischen wird Klaras Geschichte als junge Frau erzählt. Auch der Stil ist recht einfach, erinnert fast an klassische Frauenbücher, zwar weniger kitschig und pathetisch, aber eben auch nicht hochliterarisch.
Dann entdeckte ich das Nachwort, in dem die Autorin erzählt, dass das Vorbild für Klara ihre Großmutter ist, die tatsächlich ihre Lebensgeschichte auf 130 Kassetten aufgenommen hat und die auch im wirklichen Leben in einem Kinderheim der Nazis gearbeitet hat. Der Roman ist nicht 1:1 eine Biografie ihrer Großmutter, es gibt Elemente, die Fiktion sind, vieles ist ausgeschmückt. Aber der Kern ist tatsächlich wahr.
Nach dieser Information fand ich dann auch die Wahl der Sprache und des Aufbaus verständlicher. Meine Großmutter, die ebenfalls in den 30ern eine junge Frau war, mochte Bücher in diesem Stil. Klassisch, schlicht. Aber nicht trivial. Sie hätte ihr Leben wohl ganz ähnlich erzählt.
Die karierten Mädchen ist der Beginn einer Triologie. Und wie es sich für einen ersten Band gehört, endet er mit einem richtigen Cliffhanger. Damit beginnt das Warten auf Band 2.
Ein sehr spannendes Zeugnis aus einer Zeit, von der wir viel zu wissen glauben und von der man doch immer wieder neue Facetten entdecken kann. Und auch eine Zeit, die noch die nachfolgenden Generationen beeinflusst. Vor allem, weil so viele nie erzählt haben, was (ihnen) wirklich passiert ist.
Spannendes Thema, sehr spannend erzählt. Ich hoffe sehr, dass sich die Autorin nicht zu lange Zeit lässt mit den fehlenden Teilen der Triologie!