Anerkennung auf Kosten der Kinder

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mrscatastrophy Avatar

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Als Kind hat Mélanie Reality TV geliebt - als Mutter zweier Kinder wird sie selbst zur Produzentin. Instagram, Youtube und Facebook machen es möglich, dass sie ihren Traum von Berühmtheit und Anerkennung lebt indem sie sich und ihre Familie als scheinbar glücklich neu erzählt. "Happy récré" heißt ihr Kanal, mit dem die Familie Millioneneinnahmen generiert, indem die beiden Kinder in niedlicher Kleidung und gesponserten Turnschuhen Coca Cola in die Kamera halten und Spielzeug unboxen - der kapitalistische Überflusstraum wird wahr. Und zunehmend zum Alptraum, denn die kleine Kimmy hat zunehmend keine Lust mehr, Teil dieser Selbstvermarktung zu sein. Nur leider interessiert das die Mutter wenig, der Vater sieht auch gekonnt darüber hinweg und die Wenigen, die öffentlich diese Momfluencer kritisieren, werden als Hater abgestempelt.

Als Kimmy verschwindet, beginnt die Polizei zu ermitteln - ist sie weggelaufen, wurde sie entführt, geht es um Lösegeld? Im Kern der Ermittlungen steht die Kommissarin Clara, die durch die Ermittlungen ihrem Revier erst so richtig bewusst macht, wie unreguliert und unkontrolliert, in vielen Fällen kindeswohlgefährdend, das Influencer-Familienbusiness häufig ist.

Dem Roman geht es nicht in erster Linie um Action und Spannung, stattdessen zeichnet Delphine de Vigan ein Sittenbild des heutigen Frankreich, in dem findige Momfluencer mögliche Schlupflöcher schon ausgemacht und genutzt haben, bevor ein Gesetz zum Schutz der Kinder überhaupt verabschiedet ist. So wird viel und deutlich Kritik geübt, wird die Absurdität und Inhaltsleere der Dauerwerbesendungen ebenso gezeigt wie die mögliche Motivation der Eltern, in diesem Fall der Mutter Mélanie, die ihre eigenen Unsicherheiten und den Drang nach Anerkennung über die Vermarktung ihrer Kinder auslebt. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Sozialen Medien diese Mechanismen nicht erfunden, wohl aber intensiviert haben.

Insgesamt gefiel mir das Buch gut, weil es ein Thema in den Fokus rückt, das noch viel zu wenig diskutiert wird, weil es aufzeigt, welche Folgen ein solcher Eingriff ins Privatleben für Heranwachsende haben kann und wie nötig gesetzliche Kontrollen sind. Schade fand ich, dass die im Buch angedeutete Alternative mehr oder weniger im kompletten Rückzug aus den Sozialen Medien zu liegen scheint - diese generelle Technikskepsis gehe ich nicht mit, weil die Kritik in meinen Augen sich nicht gegen die technischen Möglichkeiten, sondern die unkontrollierten neoliberalen Auswüchse richten sollte.
Das ändert freilich nichts an der absolut lesens- und betonenswerten Kritik des Buchs, weshalb ich es auf jeden Fall empfehlen kann.