Brandaktuelles Thema - Etwas zu kühl-analytisch

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annajo Avatar

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Mélanie Claux ist Reality-TV Fan der ersten Stunde. Schon als Jugendliche ist sie fasziniert von Formaten wie Big Brother. Ein erster Versuch im Reality-TV scheitert, doch Jahre später hat sie einen Familien-YouTube-Kanal aufgebaut und ist zu einer sogenannten Influencer-Mom aufgestiegen mit einem der größten Kanäle in Frankreich. Meistens zu sehen sind jedoch ihre Kinder, die 6-jährige Kimmy Diore und der 8-jährige Sammy Diore. Kimmy war noch keine drei Jahre alt, als sie das erste Mal in einem YouTube Video erschien. Doch nun ist Kimmy verschwunden und bei einer Reichweite von Hunderttausenden oder mehr könnte es jeder gewesen sein ...
Clara Roussel ist procédurière bei der Polizei. Sie trägt die gesammelten Beweise zusammen, analysiert sie und schreibt Berichte darüber. Das klingt nicht besonders spannend und dennoch liebt Clara diesen Job. Denn sie ist es auch, die die Videos von Mélanie anschaut und analysiert, eine Systematik findet, nach Auffälligkeiten sucht. Als Kind fernsehkritischer Eltern hat sie mit den sozialen Medien und dem Phänomen der Influencer wenig am Hut, doch sie muss Hinweise finden, wo Kimmy sein könnte.

Ich habe bisher mehrere Bücher der Autorin gelesen und sie immer gemocht. Aber mit diesem Buch habe ich mich ab einem gewissen Punkt schwer getan und ziemlich mit meiner Enttäuschung gekämpft. Die ersten 40 bis 50 Seiten hatten mich ganz gut gepackt und das Thema fand ich extrem spannend, denn es ist wirklich am Puls der Zeit, thematisiert etwas, über das seit wenigen Jahren kontrovers diskutiert wird. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass digitale Themen aus dem Alltag, also jenseits von SciFi, jetzt endlich auch in der Belletristik angekommen sind und in ihren gesellschaftlichen Auswirkungen betrachtet werden. Doch de Vigans sehr kühler analytischer Stil hat mir hier nicht gefallen. Man kam den Figuren emotional nicht wirklich nah. Mélanie wurde durchweg als unsympathisch dargestellt ohne sich wirklich intensiv mit ihrem Bedürfnis nach Anerkennung und auch ihrer Naivität bezüglich sozialer Medien zu beschäftigen. Mit den schon älteren Polizeibeamten hatte die Autorin eine gute Projektionsfläche, um die Funktionsmechanismen des Influencertums detailliert zu erläutern. In einigen Jahren wäre das wahrscheinlich unglaubwürdig gewesen. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass die Autorin nicht sehr internet- oder Social Media affin ist, denn das Buch war sehr moralisierend ohne auf mögliche verschiedene Perspektiven oder Motive einzugehen. Vielleicht hätte jemand dieses Buch schreiben sollen, der oder die selbst mehr mit diesen Medien zu tun hat und den Konflikt besser nachvollziehen kann.
Den Handlungsstrang um Clara Roussel kennt man insgesamt aus vielen Kriminalromanen: hier taucht man in das Privatleben und die Gedankenwelt einer Ermittlerin ein. Hier fand ich gut gelungen, dass man durch Claras Analysen und Dokumentation die Absurdität vieler dieser Videos vor Augen geführt bekam und merkte, dass sie mit dem Wohlbefinden oder der Gesundheit der Kinder nicht immer vereinbar waren. Gleichzeitig zeigt es den Druck, immer wieder neue Inhalte zu präsentieren. Gut fand ich auch, dass die Autorin die Wirkung auf die Kinder, auch langfristig, aufgezeigt hat, wenn auch eher deutlich moralisierend.

Die Auflösung hingegen fand ich lieblos und etwas unglaubwürdig, also wäre die Geschichte festgefahren und als hätte der Autorin der Mut gefehlt. Dann wechselt plötzlich der Zeitstrang, die Geschichte schaut in die Zukunft und es wirkte als hätte sich die Autorin auch noch schnell Gedanken über mögliche (technische) Entwicklungen der Zukunft machen müssen.

Ich habe mir sehr gewünscht, dieses Buch zu lieben. Das Thema Influencer-Eltern fand ich innovativ und das Buch ging sich zunächst spannend an. Zunehmend wirkte es jedoch etwas unausgereift, den Figuren gegenüber distanziert und zu kühl-analytisch. Ich hatte mir mehr versprochen und wurde deswegen leider etwas enttäuscht.