Das Leben ist eine Reality-Show...

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Wer ist ihnen in den Social Media nicht schon begegnet: den niedlichen Kindern, stolz präsentiert von ihren Eltern, obwohl bekannt ist, dass das Darknet und einschlägig Interessierte auf der Suche nach genau solchen Fotos und Filmen sind, um sie für ihre Zwecke zu missbrauchen? Oftmals sind es Momentaufnahmen, dem Zufall geschuldet, kleine Peinlichkeiten oder Niedlichkeiten des Kindes, die mit der ganzen Welt geteilt werden sollen. Doch manche Eltern schaffen damit für sich und ihre Kinder eine Parallelwelt. Eine auf Hochglanz polierte und mit Filtern unterlegte perfekte Realität, die beim Zuschauer Bewunderung und Sehnsüchte weckt.

Ich habe mich ehrlich gesagt nie zuvor gefragt, was Eltern abgesehen von den gewaltigen Einnahmemöglichkeiten dazu motivieren könnte, ihre Kinder tagein tagaus zu filmen und einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren, immer niedlich, stets gut gelaunt, sich der allgegenwärtigen Kamera ständig bewusst. Doch Delphine de Vigan stellt sich dieser Frage. Mit Melanie, einer Frau, die zeitlebens immer am Rande des Geschehens stand und doch so gerne gesehen werden wollte, präsentiert sie eine Frau, der das Internet schließlich die Möglichkeit bietet, all die Anerkennung zu bekommen, die das wahre Leben ihr stets versagt hat. Sie ist abhängig von den Klicks und Likes ihrer ständig wachsenden Followerschar und setzt dafür vor allem auf die Anziehungskraft ihrer Kinder.

Doch nun ist Melanies kleine Tochter Kimmy plötzlich verschwunden. Die rasch hinzugezogene Polizei findet keine Spur des Mädchens, und so geht man schließlich vom Schlimmsten aus. Clara leitet die polizeilichen Ermittlungen und steht nun trotz ihrer Berufserfahrung vor einer neuen Herausforderung. Das verschwundene Mädchen ist durch die Social Media Millionen von Menschen bekannt, wo soll man da anfangen zu suchen?!

Clara ist zwar im gleichen Alter wie Melanie, doch sind die beiden Frauen grundverschieden. Die Polizeibeamtin ist die Tochter von kritisch hinterfagenden Eltern, die zeitlebens gegen vieles demonstriert haben, auch gegen Big Brother & Co. Einen Fernseher kauften die Eltern erst, als Clara als Jugendliche darauf gepocht hat. Das kritisch Hinterfragende hat Clara von ihren Eltern übernommen, auch wenn sie nun im Staatsdienst ist und sich dementsprechend angepasst verhalten muss. Im Gegensatz zu Melanie strebt Clara ein Leben unter dem Radar an und versucht möglichst wenig elekronische Spuren zu hinterlassen.

Die Welt der Social Media ist Clara nicht unbekannt aber doch fremd. Als sie sich mit den zahllosen Youtube-Beiträgen von Melanies Familie befasst, bekommt sie eine Ahnung von dem, was von den Kindern gefordert wird und was das für sie bedeutet: das Leben ist eine Reality-Show. Und was die Mutter zu ignorieren versucht, wird Clara nach Sichtung der Beiträge immer deutlicher: das kleine Mädchen wirkt neuerdings trotz aller Filter zunehmend unwilliger und unglücklicher. Kleine Gesten nur, aber von außen gesehen doch deutlich erkennbar. Doch trotz dieser Erkenntnis ist klar, dass Kimmy wohl kaum weggelaufen sein dürfte. Wo also ist das kleine Mädchen?!

Aufgemacht wie ein Krimi befasst sich dieser Roman mit einem sehr aktuellen und doch oft vernachlässigten Thema: der Internetpräsenz von Kindern. Dabei widmet Delphine de Vigan der Darstellung der Hauptcharaktere Melanie und Clara viel Raum, lässt die beiden jedoch trotzdem auf Distanz zum/zur Leser:in. Sie stehen als Gegenpole zum Geschehen einander gegenüber - auf der einen Seite die Kreatorin einer Parallelwelt mit und auf Kosten ihrer Kinder, auf der anderen Seite die kritisch Hinterfragende, die sich mit den Folgen dieser Entwicklung befasst. Dadurch lässt sich die eigentliche Thematik in ihrer ganzen Bandbreite gut darstellen.

Dem Roman ist anzumerken, wie intensiv sich die Autorin mit dem Thema auseinandergesetzt und dafür recherchiert hat. Ihre Erkenntnisse fließen hier allesamt in die Erzählung ein, was zuweilen etwas dozierend und essayhaft erscheint, die Brisanz der Problematik aber herausstreicht. Einerseits als Bruch, andererseits als interessante Ergänzung empfand ich das letzte Viertel des Buches. Zehn Jahre nach den geschilderten Ereignissen um Kimmys Verschwinden schlidert Delphine de Vigan, was die Entscheidung Melanies, vor allem in einer Scheinwelt zu leben, bei den Beteiligten auszulösen vermochte. Besonders erschreckend fand ich dabei die Möglichkeit, am sog. Truman-Syndrom zu erkranken, einer Wahnvorstellung, dauerhaft von versteckten Kameras gefilmt zu werden.

Alles in allem ein wachrüttelnder Roman, der die Frage aufwirft, inwieweit hier der Gesetzgeber gefordert ist, weitreichendere Maßnahmen zum Schutz der Kinder zu ergreifen. Und inwieweit jeder einzelen von uns gefordert ist, diese Entwicklung zu boykottieren. Ausbleibende Klicks würden die Zurschaustellung von Kindern unterbinden. Aber schon beim Schreiben dieses Satzes ist mir klar, wie blauäugig es ist zu glauben, dass das möglich wäre. Es gibt Entwicklungen, die sich wohl nicht mehr umkehren lassen. Aber vielleicht gibt es doch Möglichkeiten, dass immer mehr Menschen diese kritisch hinterfragen? Delphine de Vigan hat hierzu definitiv ihren Beitrag geleistet!

Ein Roman, der viel Stoff zum Nachdenken liefert...


© Parden