Diese Kinder sind keine Könige

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Furchtbare Melancholie überfiel Clara. Sie konnte kaum noch atmen und stellte wieder auf Pause. Mélanies Gesicht, durch einen dieser Instagram-Filter – verlängerte Wimpern, Pfirsichhaut und dunkelblaue Iris – zum Puppengesicht mutiert, erstarrte in einem Fernsemoderatorinnenlächeln.

Clara rollte auf ihrem Schreibtischstuhl zurück, um Abstand von dem Bild zu gewinnen.

„Wer ist diese Frau?“, fragte sie plötzlich laut.
Delphine de Vigan – Die Kinder sind Könige, S. 198

Ja, wer ist diese Frau? Das fragt sich nicht nur die Polizistin Clara in Delphine de Vigans neuem Roman. Auch ich fragte mich dies während der Lektüre von Die Kinder sind Könige mehrfach. Allzu fremd und unverständlich blieb mir das Handeln von Mélanie Claux, die ihre Kinder als Darstellende für ihr Influencer-Dasein missbraucht. Ein soghaftes Buch über ein Thema, das de Vigan mit viel Verve ins öffentliche Bewusstsein holt.

Dabei hat die Tatsache, dass ich de Vigans Buch hier bespreche, durchaus eine eigene Ironie. Schließlich pflege auch ich Präsenzen in den Sozialen Medien, produziere mich hier auf dem Blog, auf Facebook und auf Instagram, wenngleich ich mich bemühe, irrelevante persönliche Befindlichkeiten, platte Konsumaufrufe oder Bespiegelung der eigenen banalen Alltagsroutine in meinen digitalen Welten zu vermeiden und stattdessen die Vielfalt der Literatur in den Mittelpunkt meiner Social Media-Präsenz zu stellen. Aber letzten Endes mache ich mit Büchern das, was Mélanie Claux in Delphine de Vigans Roman mit ihren Kindern tut: Aufmerksamkeit, Klicks und auch Anerkennung für das zu generieren, was man als Schwerpunkt seines digitalen Schaffens auserkoren hat und das einem wichtig ist.

Hier bespricht also ein (nicht allzu erfolgreicher) Influencer (oder ein Werbekörper, wie es Wolfgang M. Schmitt und Ole Nymoen in ihrer Analyse der Szene ausdrücken) einen Roman über eine sehr erfolgreiche Influencerin. Deren Name ist Mélanie Claux und schon als Kind ist sie fasziniert von Formaten wie der Sendung Loft, einer Art Big Brother, die den Teilnehmenden Ruhm und Aufmerksamkeit verheißt.

Ein Leben auf Youtube

Ein eigener Auftritt in einem solchen Reality-Format einige Jahre später bleibt erfolglos, doch die Sucht nach Aufmerksamkeit und einem öffentlichen Dasein lässt Mélanie nicht los. Und so entdeckt sie, befeuert durch Facebook und Co, nach der Geburt ihrer Kinder diese als perfekte Möglichkeit, um ihren Drang nach der so sehnlich erhofften Aufmerksamkeit zu befriedigen. Sie erschafft den Youtube- und Instagramkanal Happy Récré, auf dem ihre beiden Kinder Kimmy und Sammy als Hauptprotagonisten fungieren. Sie filmt den Alltag mit ihren Kindern und erreicht mit diesen Videos tausende von Abonnent*innen und millionenfache Aufrufe.

Mal lässt sie die Zuseherinnen und Zuseher entscheiden, welche neuen Schuhe ihre Tochter bekommen soll. Dann wird wieder ein Video gezeigt, in dem ihre Kinder innerhalb einer bestimmten Zeitspanne so viel wie möglich in einem Supermarkt kaufen sollen, Hauptsache die erworbenen Produkte beginnen mit dem Buchstaben K oder andere fragwürdige Aktionen, wie etwa eine Blindbestellung von Produkten von Fastfoodrestaurants und deren anschließender Verzehr vor der Kamera. Kapitalismus, ungezügelter Konsum und die Gier nach immer mehr sind die Kennzeichen, für die Happy Récré steht. Einmal im Jahr trifft Mélanies Familie ihre Fans zu einem Meet&Greet, viele Firmen wollen mit Sammy, Kimmy und ihrer Mutter kooperieren – und eine Sendepause gibt es im Leben der Familie Diore sowieso nicht.

Das Leben von Familiy-Influencer*innen

Dieses dauerperformative und daueröffentliche Leben kommt aber plötzlich zum Erliegen, als Mélanies Tochter Kimmy nach einem Versteckspiel mit anderen Kindern verschwindet. Hier kommt die zweite Hauptfigur von Die Kinder sind Könige ins Spiel, die Delphine de Vigan in einer Art Doppelporträt nebeneinanderstellt. Es handelt sich um die Polizeioffizierin Clara Roussel, die bei der Kriminalpolizei in Paris ihren Dienst versieht. Denn als eine erste Forderung der Geiselnehmern eintrifft, wird allen Beteiligten schnell klar, dass die Entführung von Kimmy bitterer Ernst ist. De Polizei nimmt Ermittlungen auf.

Clara Roussel arbeitet sich (wohl stellvertretend für die meisten Leserinnen und Leser) in die Lebens- und Arbeitswelt der Familie Diore ein (die sowieso nahezu deckungsgleich sind). Bei ihren Recherchen taucht sie hinein in die bizarre und verstörende Welt der Family-Blogger hinein und lernt eine Welt voller Künstlichkeit und ungezügeltem Kapitalismus kennen. Denn ähnlich wie etwa Dave Eggers‚ Der Circle oder Berit Glanz‚ Automaton hat auch Delphine de Vigan in ihrem Buch ein Anliegen in Sachen Kritik der digitalen Lebenswelt.

Sie nimmt die Welt der Family-Influencer*innen in den Blick, in der die Kinder von ihren Eltern beständig vor die Kameralinsen gezwungen werden und denen jegliche Rückzugs- und Entwicklungsmöglichkeiten fernab der Öffentlichkeit genommen werden. Dieses missbräuchliche und alleine auf Publicity gerichtete Ausschlachten des Privaten ist es, das de Vigan sehr energisch (und für meinen Geschmack in einigen Passagen etwas zu platt und überdeutlich) in den Blick nimmt. Denn eines sind diese Kinder sicherlich nicht, auch wenn ihre Eltern etwas anderes behaupten mögen, nämlich: Könige.

Ein wenig mehr Differenzierung wäre schön

Über den Entführungsfall hinaus spannt Delphine de Vigan einen Bogen, in dem sie abschließend im Jahr 2031 landet, in dem sie zeigt, was das Leben als daueröffentliche Youtuber*innen aus Kimmy, Sammy und ihrer Mutter gemacht hat. Auch Clara Roussel hat hier noch einmal einen Auftritt, der sie mit den Entwicklungen der Beteiligten konfrontiert. Hier zeigt sich dann noch einmal deutlich, wie fein und ausdifferenziert Clara im Gegensatz zu ihrem Widerpart Mélanie gezeichnet ist.

Das Streben von Mélanie nach Likes und ihre Sucht nach Aufmerksamkeit hingegen kann de Vigan nicht wirklich verständlich vermitteln und begründen (und will es in meiner Lesart auch gar nicht). Hätte de Vigan hier noch auf etwas mehr Graustufen denn Schwarz/Weiß und eine ausgewogenere Gestaltung ihrer Figuren gesetzt, wäre dieses Buch noch etwas stärker geworden.

Fazit

So oder so besitzt Die Kinder sind Könige aber einen starken Sog, zieht schon ab den ersten Seiten ins Buch hinein und kritisiert Auswüchse der Sozialen Medien, den viele weniger youtube- und influenceraffine Menschen sicherlich kaum auf dem Schirm haben, besonders wenn man keine Kinder im fraglichen Alter hat. Delphine de Vigan hat ein Anliegen, das sie manchmal etwas platt und überdeutlich, dennoch aber wirklich lesenswert und unterhaltsam vorbringt. Engagierte Literatur mit einem genauen Blick auf die Schattenseiten der digitalen Welt. Literatur, die zu Diskussionen anregen kann und Literatur, für die ich auch gerne meine (natürlich nicht mit Mélanie Claux vergleichbare) Reichweite nutzen möchte, um Die Kinder sind Könige ins Gespräch zu bringen.