Diese Kinder sind Marionetten

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stricki Avatar

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Dieses Buch ist viel mehr als ein Roman: es blickt hinter die Kulissen der schönen heilen Social Media Welt. Lustige Kindervideos auf Youtube und Instagram - was bedeutet das eigentlich für die Kinder? Ich muss zugeben, ich habe mir zuvor noch niemals Gedanken darüber gemacht. Nach diesem Buch würde ich allen Eltern davon abraten zu versuchen, mithilfe Ihrer Kinder im Internet eine große Nummer zu werden, berühmt zu werden, viel Geld verdienen zu wollen.

Delphine de Vigan beschreibt das Leben von Mutter Mélanie, Mann Bruno und ihren beiden Kindern Sammy und Kimmy. Der Blick der Leser ist tatsächlich sehr distanziert und von oben, ein bisschen wie "hinter Glas" - wenn auch auf eine andere Art und Weise, wie die Fangemeinde die Stars Kimmy, Sammy und Mélanie wahrnehmen.

Die Familie lebt ein öffentliches Leben. Mit viel Fleiß hat Mutter Mélanie, die selber so gern ein Social Media Star gewesen wäre, die es aber nie weiter als in die erste Runde einer Reality TV Sendung schaffte, einen Youtube-Kanal mit großer Reichweite aufgebaut. In sogenannten Unboxing-Videos packen ihre Kinder Geschenke aus, und andere Kinder schauen sich das an. Je mehr Follower und Fans der Kanal generiert, umso mehr Sponsoren und Werbepartner betreten die Bühne und machen aus einem engagierten Hobby ein lukratives Business.

In was für einer kranken Konsumwelt leben wir eigentlich? Kapitalismus pur.

Ich musste mir das erst mal selber anschauen. Ja, es gibt diese Kanäle wirklich, wo eine motivierte, aufgedrehte Mutter eine Bedienungsanleitung vorliest und eine brave Tochter in die Kamera lächelt und Produkte präsentiert. Genau wie im Buch!

Es bleibt nicht bei diesem einen Kanal. Mélanie baut das Business aus, der Vater kümmert sich als Fulltimejob um das Schneiden der Videos, die Nachbarwohnung wird als Atelier gemietet, weitere Kanäle und Instagram folgen. Als die Familie gerade richtig auf Erfolgskurs unterwegs ist, wird die kleine Kimmy entführt.
Die Polizei schaltet sich ein und geht der Sache auf den Grund. An dieser Stelle erfährt auch die Leserschaft sehr viel Wissenswertes über diesen Markt, seine Mechanismen und Methoden. Ich fand das irre spannend!
Ja, man kann es nachvollziehen, dass es verführerisch ist, dass es süchtig machen kann, täglich tausende von Likes und Herzchen zu kassieren, und dazu noch harte Währung on top.
Die heile Welt bekommt unschöne Kratzer, so sieht man, vorausgesetzt man schaut genau hin, dass die kleine Kimmy bei den letzten Videos nicht mehr so enthusiastisch bei der Sache ist. Eher im Gegenteil. Sie vermeidet den Blick in die Kameras.

Wer könnte der Entführer sein, von einem kleinen Mädchen, dass ein Internetstar ist, die unglaublich bekannt ist? Schauen nicht nur kleine Kinder diese Videos? Was wollen die Entführer? Nur Geld, oder etwas ganz anderes?

Die Auflösung ist überraschend, aber ganz im Stil der Autorin, die ein Herz für Kinder in besonderen Situationen hat, wie sie auch schon bei "Loyalitäten" so großartig bewiesen hatte.

Im letzen Abschnitt geht sie auf das Thema ein, was die extreme Vermarktung dieser Kinder mit diesen Menschen macht, wenn sie älter werden.

Ich finde das Buch ist weniger ein Roman, dafür mehr ein Sachbuch, oder eine Art Dokumentation, oder im Grunde alles in einem. Wer nur eine nette Geschichte lesen will, könnte irritiert sein, weil das Buch nicht von den Emotionen seiner Protagonisten lebt, sondern von den ganzen Zusammenhängen.

Die Rolle der Mutter, Mélanie, möchte ich noch hervorheben, diese finde ich stark umgesetzt. Eine aufopferungsvolle Mutter, die felsenfest davon überzeugt ist, das Richtige zu tun. Für sie gibt es nichts Schöneres als Likes und Fame, folglich geht es ihren Kindern ebenso - denkt sie. Etwas anderes will und kann sie weder sehen noch akzeptieren. Sie sagt, die Kinder sind die Könige, aber tatsächlich sind die Kinder Marionetten. Werkzeuge. Alles Abweichende unerwünscht ...

Ich könnte mir gut vorstellen, dass dieses Buch ein Plädoyer ist, an all die Eltern da draußen, die sich überlegen, ob sie mit ihren super niedlichen Kids, die so gern vor der Kamera posieren, und die so gern mit den Smartphones der Eltern spielen, sich nicht auf diese Maschinerie einzulassen. Der Schaden den die Kinder erleiden, wenn sie von klein auf gefilmt und mit der ganzen Welt geteilt werden, ist immens und vielleicht auch gar nicht abzuschätzen oder wieder gut zu machen.

Mich hat das Buch tief beeindruckt. Meine Leseempfehlung!