Gesellschaftskritischer Pageturner

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Für ihren neuesten Roman hat sich Delphine de Vigan einem brisanten, viel zu wenig beachteten Thema angenommen. Haben Eltern das Recht, ihre Kinder auf Kanälen wie YouTube oder Instagram zu präsentieren? Wer schützt sie vor dem Selbstdarstellungstrieb der Erwachsenen? Zahlreiche Eltern machen ihr Familienleben öffentlich, lassen ihre Kinder vor der Kamera Aufgaben bewältigen oder das neueste Spielzeug testen. Wo bleibt die Privatsphäre? Wer schützt Kinder vor pädophilen Usern? Welche psychischen Schäden können entstehen, wenn der Alltag vom Blick durch die Kamera und den „Druck“, das neueste Video hochzuladen, bestimmt wird?

Seit der ersten Reality Show träumt Mélanie davon, ein Star zu sein. Als junge Mutter gelingt ihr schließlich ein durchschlagender Erfolg mit ihrem YouTube-Kanal „Happy Récré“, der innerhalb kürzester Zeit zu einem der erfolgreichsten Familienkanäle Frankreichs avanciert. Mehrmals in der Woche stehen ihre Kinder Kimmy und Sammy vor der Kamera. Mélanie ist glücklich, geht ganz in ihrer Fangemeinde auf, fühlt sich von ihren Followern geliebt, verdient nebenbei horrende Summen Geld und betont wie sehr auch ihre Kinder es lieben, immer wieder neue Videos zu drehen. Eines Tages verschwindet die kleine Kimmy beim Versteckspielen spurlos. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt; die Polizei ermittelt und ist plötzlich mit den besonderen Bedingungen der virtuellen Welt konfrontiert. Polizistin Clara, deren Leben in größtmöglichem Kontrast zu dem von Mélanie steht, vertieft sich in die Videos von „Happy Récré“ in der Hoffnung, die richtige Spur zu finden.
Delphine de Vigan hat einen Pageturner geschrieben, den ich innerhalb kürzester Zeit gelesen habe. „Die Kinder sind Könige“ liest sich wie ein Krimi, bei dem sich ganz nebenbei die Problematik der Veröffentlichung privater Videos oder Bilder entfaltet, Informationen zu gesetzlichen Regelungen einfließen und die Grauzone Internet thematisiert wird. Die sehr unterschiedlichen Perspektiven, die vor allem durch Mélanie und Clara, aber auch Sammy, Kimmy, den Ehemann und die Nachbarn vertreten sind, geben dem Roman Tiefe. Ich bin vor allem dankbar für den Einblick in Melanies Welt, die erschreckend, aber auch erhellend für mich war. Ich begreife nun eher die Gründe, die Menschen dazu bewegen, ihr Leben derart öffentlich zu inszenieren. Auch die Spätfolgen eines in der Kindheit erfahrenen medialen Missbrauchs werden im Roman thematisiert, mögliche psychische Beeinträchtigungen im Erwachsenenalter aufgezeigt und eventuelle Folgen für die Eltern-Kind-Beziehung geschildert. Delphine de Vigan ist ein gesellschaftskritischer Roman gelungen, der viel Stoff zum Nachdenken bietet und sich zugleich leicht und spannend liest.