Ich bin begeistert und sprachlos

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„Am 10. November 2019 gegen achtzehn Uhr verschwand Mélanie Claux’ damals sechsjährige Tochter während eines Versteckspiels mit anderen Kindern der Wohnanlage.“



Mélanie war schon immer ein großer Fan von Ruhm und Bekanntheit. Nachdem es in einer Reality TV Show nicht klappte, hat sie Jahre später eine neue Idee: Sie und ihre Familie teilen ihr Leben.

Vor allem ihre kleine Tochter Kimmy ist mit ihren blonden Haaren und der tollen Stimme wie ein Magnet für die Zuschauer. Aber auch ihr großer Bruder Sammy ist natürlich stets fleißig mit dabei.

Nach und nach bauen Mélanie und ihr Mann das gemeinsame Zuhause zum Studio um, die Followerzahlen steigen stetig, die Einkünfte werden größer. So viel Liebe ist doch etwas Schönes.



Dass nicht alle ihr den Ruhm gönnen, ist Mélanie natürlich klar. Aber niemals hätte sie gedacht, dass irgendwer so weit gehen würde, ihre geliebte Tochter zu entführen. Doch genau das geschieht! Inmitten ihrer abgesicherten Wohnanlage spielen die Kinder verstecken, doch Kimmy wird nicht mehr gefunden. Die Polizei wird eingeschaltet und schon wenige Zeit später bekommen sie Nachrichten: Die Entführer wollen etwas und Mélanie muss diese Forderungen erfüllen, wenn sie ihre Tochter wiedersehen will.



Neben der Sicht von Hauptprotagonistin Mélanie dürfen wir auch immer wieder Einblicke in die Gedanken und das Gefühlsleben der Polizeibeamtin Clara werfen. Einen größeren Kontrast könnte die Autorin uns hier kaum bieten.



Clara ist rational, perfektionistisch und achtet selbst auf die kleinsten Details. Das Thema Social Media ist ihr zunächst eher fremd, aber gerade dadurch hat sie einen unverklärten Blick auf die Geschehnisse. Während ihrer Recherche erkennt sie schnell: Kimmy wollte diese Videos nicht mehr drehen. Die Veränderungen im Verhalten des Mädchens sind vor der Kamera deutlich zu sehen, doch wollen Mélanie und „ihre Lieben“ das scheinbar nicht wahrhaben.

Ist es vielleicht doch kein so schreckliches Verbrechen, das Mädchen aus seiner Familie herauszuholen?



Die Einblicke in Mélanies Beweggründe gelingen Delphine de Vigan auch fabelhaft. Die Frau ist so sehr auf Zuneigung und Anerkennung aus, dass sie blind dafür geworden ist, was sie ihren geliebten Kindern damit unwillentlich antut. Negative Kritik stößt bei ihr vollkommen auf taube Ohren und als ihre Tochter verschwindet, suhlt sie sich beinahe im Mitleid ihrer Fans.

Die Verhaltensweisen, die ich hier erkenne, haben mir wohl am meisten zu denken gegeben. Ein brandaktuelles Thema, mit dem sich sicherlich viele von uns ein Stück weit identifizieren können.



„Manchmal beteiligte sie sich an Diskussionen über das Stillen oder die bestmögliche Betreuung, doch die zunehmende Aggressivität, die sie im sozialen Netz spürte, entmutigte sie. Mélanie ertrug keine Konflikte. Sie träumte von einer Welt der Solidarität und des Austauschs. Von einer Welt, in der sie die Königin wäre.“



Delphine de Vigan gelingt mit Die Kinder sind Könige mal wieder ein erstklassiger Roman.

Ihre Charaktere sind vielschichtig und abwechslungsreich, gerade die Protagonistinnen grundverschieden. Wie der Aufstieg der Familie in den Social-Media-Himmel beschrieben wird und welch unterschiedliche Reaktionen es in der Gesellschaft gibt, ist großartig.



Erwartet hier bitte keinen spannenden Krimi, das Buch ist eher ruhig aufgebaut, psychologisch spannend und regt zum Nachdenken an.

Wenn man nicht nur sein eigenes Leben der Öffentlichkeit preisgibt, sondern auch noch das der Kinder – die das Ausmaß dessen natürlich nicht ansatzweise begreifen können – welche Auswirkungen kann das haben?

Am Ende des Romans gibt die Autorin einen faszinierenden wie erschreckenden Ausblick in die Zukunft, der euch Lesende sicherlich alle berühren wird.

Komplex, fesselnd und definitiv jede einzelne Seite wert!



„Fakt war, dass ihre Mutter ihr Leben nicht mehr Stunde für Stunde vor Unbekannten ausbreitete.

Jemand hatte Stopp gesagt. Und die Maschine war stehen geblieben.“