Ein ungewöhnlich guter, lesenswerter Roman

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Malka Treynovsky ist 6 als sie und ihre jüdische Familie bestehend Vater, Mutter und zwei ihrer älteren Schwestern aus Russland 1913 fliehen. Die Reise soll nach Südafrika gehen, wo der Bruder der Mutter lebt und sie dort erwartet. Aber in Hamburg entscheiden Malka und ihr Vater unter Ausschluss der restlichen Familie anders: Sie tauschen die Tickets und die Familie nimmt das Schiff nach Amerika. Sie landen in einem Armenviertel auf der Lower East Side. Sie sind bettelarm. Die Mutter jagt Malka und ihre ältere Schwester hinaus auf die Straße, damit sie Geld verdienen: wer nicht arbeitet, isst nicht, lautet die Devise. Die beiden kleinen Mädchen erledigen Hausarbeiten: schrubben Böden, schleppen Einkäufe oder klingeln bei den Nachbaren und bieten schlichte Unterhaltung an: Malka singt die selbst komponierten Lieder, da sie ein großes Mundwerk hat, wie ihre Mutter es ihr mehrmals vorgeworfen hat, und ihre Schwester tanzt dazu. Dabei gibt es einen Penny, wenn Malka singt und noch einen, damit sie aufhört. Eines Tages gerät Malka unter das Pferd des Eisverkäufers Dinello und ist schwer am Bein verletzt. So nimmt ihr Schicksal seinen Lauf. Von der Mutter verstoßen, landet sie in der Familie des italienischen Eismachers, lernt die Kunst der Eiszubereitung und steigt später zur „Eiskönigin von Amerika“ mit eigener TV-Sendung, etlichen Konzessionsnehmern, einem Reichtum, von dem sie als ein armes Auswandererkind hätte nie träumen können.
Es ist eine Ich-Erzählung. Lilian Dinkle, wie die Grand Dame des Eis-Imperiums den größten Teil ihres Lebens heißt, erzählt den Lesern ihr bewegtes wie arbeitsreiches Leben. Sie hält es nicht für nötig, etwas daran oder an ihren Beweggründen zu beschönigen. Ihr schlichter Wunsch zu überleben, das Leben ihrer Lieben abzusichern und ihr stark ausgeprägter Pragmatismus ließen sie in entscheidenden Momenten zu weniger konventionellen Mitteln greifen. Gepaart mit eiserner Disziplin, sicherten sie nicht nur das Überleben, auch ihr Geschäft florierte mit der Zeit. Und oft dann, wenn die Situation geradezu ausweglos schien, bekam Lilian Dunkle eine zündende Idee und machte eine Herausforderung zum Erfolg.
Die Geschichte erstreckt sich über ca. 68 Jahre und liefert u.a. einen ungewöhnlichen Blick auf die amerikanische Geschichte des 20-ten Jahrhunderts: der Erste Weltkrieg mit seinen in die Höhe schießenden Preisen, die Prohibition, der Zweite Weltkrieg und die Deportation der Italiener, die 60-ger und 80-ger, all das aus der Sicht einer Eismacherin, die im Zweiten Weltkrieg so richtig dick ins Geschäft kam und die Herstellung ohne ihren Mann sichern musste.
Etwas vom stellenweise derben Humor, auch mehrere von treffend bissigen Formulierungen, findet man in dem Roman auch. Kleine Kostproben: „Eines haben die Nazis richtig gemacht, dachte ich, als ich eines Sonntags in meinem Büro nach Funhouse einen Bourbon trank. Wenn man schon in der Hölle ist, bietet Arbeit die einzige Aussicht auf Erleichterung. S. 464. „Die Ehefrauen in unserem Geschäft, die haben mich noch nie im Geringsten interessiert. Es waren entweder dekorative Hohlköpfe oder öde Matronen. Was konnte ich denn mit denen reden? Und jetzt? Witwen wurden jedenfalls zu nichts eingeladen – nicht mal Promiwitwen wie ich. Außer natürlich, man wollte Geld.“ S. 465. Oder: „Ein Visionär sein heißt, darauf zu warten, dass die übrige Welt nachzieht.“ S. 484
Dieses Werk stellt eine beachtliche Leistung dar. Aus so einer Perspektive hat noch keiner mir bekannter Autor einen kritischen Blick auf die amerikanische Gesellschaft in der Spanne von 1913 bis in die achtziger Jahre geworfen.
Was meine Begeisterung in Grenzen hielt, war der Schreibstil: so kräuselig, eher umständlich und voller Details. Er forderte volle Aufmerksamkeit und es brauchte einige Seiten, um nach einer Pause sich in die Geschichte wieder einfinden zu können. Danach ging es eine Weile.
Die Protagonistin und ihre Geschichten machen dies schon fast wett, und letztendlich passt diese Erzählweise zu Lilian. Sie ist strak, eigenwillig, durchsetzungsstark, aber auch chaotisch, von Emotionen geleitet, besonders in den jungen Jahren. Sie ist so anders als die meisten Romanheldinnen: kein süßes Liebchen. Zu allen Seiten moralisch wie politisch korrekt ist sie bestimmt nicht. Und gerade das hebt sie aus der übrigen Masse hervor.
Es ist zwar nicht so, dass ich den Roman verschlungen habe, aber es wäre ausgesprochen schade, Lilian und ihre Geschichte nicht kennengelernt zu haben.
Fazit: ein ungewöhnlich guter, lesenswerter Roman mit einer starken wie moralisch inkorrekten Protagonistin. Geschichte des 20 Jh. aus der Perspektive der „Eiskönigin von Amerika“.