Originell und informativ

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wandablue Avatar

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Die Autorin, Susan J. Gilman, hat bereits drei Sachbücher verfasst. Die Erfahrungen, die sie dabei gewonnen hat, kommen diesem ersten belletristischen Unterfangen sehr zugute. Ich war begeistert. Obwohl das Buch tatsächlich einige Längen hat, wie manche Rezensenten zu Recht anmerkten, überwiegt das Positive bei weitem, z.B. die Detailtreue und die Originalität der Sprache und rechtfertigen eine 5-Punkte-Bewertung.

Susan Jane Gilman legt in ihrem ersten belletristischen Roman, die authentische Geschichte der Einwanderungswelle dar, die Anfang des 20. Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten schwappte.

Damit die Historie veranschaulicht wird, konzentriert sich Gilman auf das Einzelne, in diesem Falle auf die Treynovskys, eine bettelarme Familie russisch stämmiger Juden. Eigentlich wollte die Familie überhaupt nicht in die Staaten einreisen, sondern sich über Hamburg nach Südafrika einschiffen, wo Verwandte sie erwartet und unterstützt hätten, doch ... wie es so oft im Leben ist, kommt es anders und sie landen, empfangen von der New Yorker Freiheitsstatue und dem Entlausungskommittee im Land der Träume, wo man vom Tellerwäscher zum Millionär werden kann. Oder auch nicht.

Den ersten Namenswechsel hat man ihnen bereits verpasst: Aufgrund eines Missverständnisses werden sie zu den Bialystokers, Malka, die kleine Heldin, Protagonistin, Antiheldin, wird später von italienischen Einwanderern, den Dinellos aufgenommen und konvertiert aus rein pragmatischen Gründen zum katholischen Glauben, verbunden mit einem Namenswechsel: jetzt heisst sie Lillian Maria Dinello und nach ihrer Eheschließung wird sie sich Lillian Dunkle nennen.

Mit dem fünfjährigen Kind Malka macht der Leser sich also auf die Reise; begibt sich auf die Via Dolorosa des sozialen Aufstiegs. Denn das ist er: ein Weg der Schmerzen und des Leidens. Zunächst ist Hungern Alltag und wer nicht arbeitet, isst auch nicht, sagt die Mutter und wirft das Kind aus der Wohnung. Sie darf erst wiederkommen, wenn sie etwas verdient hat. Malka meistert die Situation, sie verschafft sich und ihrer älteren Schwester durch Gesang und Tanz, diverse Botengänge und Schleppereien, Geld. Als Belohnung spricht ihre Mutter wochenlang nicht mit ihr, denn sie meint, Malka sei für die ganze Misere der Familie verantwortlich. Was für eine Bürde für ein Kind! Malka ist sechs Jahre alt! Das ist das erste Trauma.

Durch einen Unfall wird sie völlig hinauskatapultiert aus ihrer Familie, verliert ihre Gesundheit und das bisschen Geborgenheit und Orientierung, die die Straße bietet, die sie kannte, die Orchard Street. Das ist der jüdische Straßenzug in der Lower East Side New Yorks. Von nun an ist sie als Behinderte auf die unwirsch erteilte Mildtätigkeit von fremden Leuten angewiesen, ständig ausgegrenzt, ausgenutzt, malträtiert, emotional erpresst, nie gelobt, nie anerkannt. Allein gelassen mit der Verarbeitung weiterer Traumata: Verlust der Gesundheit und tiefster Verlassenheit: Ohne Erklärung von der Mutter verstoßen. Sie wird sie nie wiedersehen! Malka ist Ballast. Unnütz. Sie schreit, schluchzt, tagelang, wochenlang, vergeblich. Sie ist erst sechseinhalb!!!

Als sie mit Tüchtigkeit, List, Schläue, Tücke, Einfallsreichtum und Energie schliesslich ein Geschäftsimperium aufgebaut hat, ja, sie hat es geschafft, sie wird mehrfache Millionärin - und alle ihre Konkurrenten überholte, sagt sie als alte Dame missmutig über die Kinder der Gegenwart: „Diese kleinen, privilegierten Moppel, die nie einen Eimer Kohle schleppen, nie in einer schlecht beleuchteten tuberkulösen Fabrik Spitzen nähen oder in einer rattenverseuchten Küche in einer Zinkwanne eiskalt baden mussten, diese „Youngster“ mit ihren Plastikfedermäppchen und ihren knallbunten Rucksäckchen, die Industrieessen aus dem Supermarkt aßen, das eigens für sie in Buchstaben und prächtige Tierformen gegossen wurde, die hatten an diesem einen Morgen ... von ihren Eltern mehr Liebe und Aufmerksamkeit erhalten als ich in meinen ganzen verdammten vierundsiebzig Jahren.“

Susan Gilman zieht den Leser nicht nur in den bewegenden und umkämpften Aufbau des Eisimperiums der Lillian Dunkle, sie liefert rundum die entsprechenden historischen Details dieser Epoche. Um den Leser ganz einzuspinnen in die Zeit zieht sie entsprechend weite Kreise, so dass die Handlung manchmal zu stagnieren scheint , aber dann gibt es doch wieder einen Schub nach vorne.

Wie die Autorin die Geschichte des Eismachens per se in die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts integriert, den Bogen spannt von 1913 bis in die Achtziger Jahre, das ist grosse Klasse. Dabei ist sie sprachlich top und höchst originell. Auch die Liebesgeschiche Lillian/Bert ist wundervoll konzipiert: „Und da sah ich in seinen Augen ein Erwachen ... wie das erste Licht des Morgens, das über die Felder kriecht und alles in ein Flammenmeer verwandelt.“

Fazit: So geht’s. So macht mans. So bettet man seine Story in die Weltgeschichte, in den historischen Kontext ein. Dafür verzeihe ich auch die eine oder andere für meinen Geschmack zu weit gezogene Schleife. Muss ich noch hinzufügen, dass es keinen einzigen Druckfehler gab? Leseempfehlung.

Kategorie: Gute Unterhaltung // Insel Verlag, 2015