Sie geht ihren Weg - konsequent und manchmal ohne Rücksicht

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ilonar. Avatar

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Im Jahre 1913 strandet die sechsjährige Malka mit ihrer Familie in Hamburg. Die jüdische Familie aus Russland will nach Südafrika, dort wird sie vom Bruder der Mutter erwartet, der Erfolg der Auswanderung ist angeblich absehbar. In Hamburg müssen die Mutter und Malkas Schwestern einige Zeit in Quarantäne, währenddessen streift der Vater mit Malka durch die Stadt. Durch Zufall geraten die beiden in ein Lichtspielhaus und sind fasziniert: Vom Glamour der Umgebung, vom „amerikanischen Traum“, von dem sie dort erstmals sehen und hören. Malkas Begeisterung, gilt auch der Schauspielerin Lilian Gish, von der sie nur einige Minuten Filmleben erhaschen konnte. Diese Momente waren so eindrücklich für das Kind, dass Malka entgegen allen Verboten der Mutter dem Vater die in ihrer Kleidung eingenähten Schiffspassagen übergibt und es voller Freude geschehen lässt, dass dieser die Karten für eine Reise nach Amerika eintauscht.
Als die Mutter dieses neue Reiseziel realisiert, ist bereits alles zu spät, das Schiff befindet sich auf See und die Familie kommt völlig mittellos in New York an. Sehr eindrücklich beschreibt die Autorin das Leben in dieser Stadt, die auch damals ein Schmelztiegel der unterschiedlichsten Nationen ist. Gerüche und Geräusche, Licht und Farben dieser Stadt meint man selbst zu spüren und fühlt sich „mittendrin“. Der Vater verlässt die Familie und Malka wird von ihrer Mutter und ihren Schwestern verlassen, als die nach einem Unfall mit einem Pferdefuhrwerk im Krankenhaus liegt. Der Unfallverursacher, ein italienischer Eisverkäufer, nimmt Malka in seine Familie auf und von „Papa Dinello“ lernt sie die Grundlagen für ihr späteres Leben, für ihren Erfolg. Malka wird eine Andere. Sie nennt sich jetzt Lilian, in Erinnerung an die Schauspielerin, die sie in einem kostbaren Moment ihres Lebens in einem Hamburger Kino sehen konnte. Sie legt ihre jüdischen Traditionen ab, konvertiert schließlich zum Katholizismus. Alles ist gut, so scheint es zumindest und ihr bescheidener Erfolg in diesem kleinen Eisimperium gibt ihr zunächst Recht. Aber nach dem Tod von Papa Dinello ist alles wie immer. Lilian ist schließlich „nur eine Frau“, zudem seit dem Unfall stark gehbehindert und Erben der Firma sind natürlich ihre Brüder.
Wieder muss Lilian von vorn anfangen. Solche Herausforderungen machen sie stärker, aber auch härter und in gewisser Weise rachsüchtig und machtbesessen. Diese Gefühle begleiten Lilian in ihrem beruflichen Aufstieg und in ihrer Ehe gleichermaßen, Unbeschwertheit und Glück, das finden wir nur in den ersten Monaten der Verliebtheit, als Albert Dunkle alles für sie ist und der später doch nur zu einer Marionette in ihrem Leben wird.
Aufstieg und Fall der Lilian Dunkle, dieser eine Satz beschreibt den ganzen Roman, der ein wundervolles Zeitbild Amerikas im des 20. Jahrhunderts von den frühen Anfängen bis in die 80ger Jahre auffächert. Geprägt von technischer Entwicklung und wirtschaftlichem Aufschwung verändert sich die Welt, verändert sich das Leben der Menschen.
Erzählt wird der Roman in sich teils schnell abwechselnden Rückblicken und Episoden im Hier und Jetzt. Die Übergänge sind fließend und manchmal gar sofort spürbar. Die Sprache ist wunderbar, gibt dem Satz „Lesen ist Fernsehen im Kopf“ Leben und erzeugt Bilder von großer Eindringlichkeit. Gegen Ende des Romans wurde es manchmal ein wenig weitschweifig, aber die Kunst der Autorin mit Worten und Wortwitz zu agieren, versöhnt einen auch mit der einen oder anderen Länge. Sehr angenehm, dass man an diesem Buch wieder einmal erleben konnte, was ein gutes Lektorat und sorgfältige Arbeit mit dem Text aus einem Manuskript machen kann: ein gutes Buch!