Carola, Carla oder auch Barbara

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tochteralice Avatar

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Alles Namen für eine, die von Haus aus Karoline Neher hieß: Carola wählte sie, aus der eine Schauspielerin der allerersten Garde werden sollte, als Pseudonym, nein: als neues Ich. Carla oder auch Carlinchen - das war sie für ihren liebenden Mann, den siechen Dichter Klabund, Barbara dagegen für Bertolt Brecht, der in ihrem Leben eine ganz besondere Rolle spielte.

Charlotte Roth hat also für diesen Roman eine reale Person zur Protagonistin erkoren, die sie in ihr gewohntes Konzept für historische Romane der neueren Zeit bettet: Jemand stößt auf Ereignisse aus der Vergangenheit, wird neugierig und deckt spannende Hintergründe, die in den meisten Fällen mit seiner eigenen Historie zu tun haben, auf. Diesmal ist diese Person Carola Nehers Sohn Georg Becker (den es tatsächlich gab), der aufgrund ausgesprochen tragischer Entwicklungen ohne seine Mutter aufwuchs. Gemeinsam mit der Bibliothekarin einer Kleinstadt, in deren Obhut sich Dokumente von Nehers Familie befinden, spürt er die Hintergründe auf - für den Leser werden Carola und ihre Gefährten lebendig, die Autorin stellt die Handlung direkt aus ihrer Perspektive dar, lässt sie also empfinden und agieren.

Carola Neher war eine faszinierende Persönlichkeit, einer der Leuchttürme im ohnehin farbenprächtigen Berlin der 1920er Jahre - mir allerdings war ihre Existenz und damit auch ihr trauriges Ende - sie starb in einem der stalinistischen Gulags - bislang unbekannt.

Ich bin froh, dass Charlotte Roth das geändert hat und ich ein weiteres wichtiges Mosaiksteinchen der neueren deutschen Geschichte kennenlernen durfte, bzw. gleich mehrere, denn in dem Roman ging es u.a. auch um Nehers Ehemann Klabund und um Bertolt Brecht - ihr Förderer und zeitweiliger Liebhaber. In dessen Charakterdarstellung erbringt die Autorin aus meiner Sicht ein Meisterwerk, stellt sie doch Brechts Getriebenheit ausgesprochen lebendig und gelungen dar.

Aber ob er so fixiert auf Carola Neher war, wie es in diesem Roman den Anschein hat? In dem Wissen um andere, zeitlich parallele Ereignisse in Brechts Leben kann ich es mir kaum vorstellen. Auch empfand ich die Darstellung vieler Personen nicht immer als gelungen, ich hatte einfach kein Bild vor Augen - und das schafft Charlotte Roth eigentlich immer. Und dass Gottfried Benn, als Klabunds Jugendfreund eine mehrfach vorkommende Nebenfigur, vor allem über sein (offenbar von Neher so wahrgenommenes) hübsches Gesicht und die schönen Augen charakterisiert wird, hat mich sogar ein bisschen gestört.

Und es sind die 1920 Jahre selbst, die in vielen Werken so unvergleichbar vielschichtiger präsentiert werden, gerade, wenn Berlin im Mittelpunkt steht. Ein spannender Roman, aber einer, der mich forderte, auch in seinen Widersprüchen. Dennoch sehr lohnenswert, wenn Sie beispielsweise erfahren wollen, warum Neher von Brecht oft "Barbara" genannt wurde. Oder Klabunds wunderschönes Gedicht "Notabene" kennenlernen möchten. Oder - und das vor allem - mehr über Carola Neher erfahren möchten, die schon früh sagt: Vielleicht muss ich endlich fortgehen, um einen zu finden, der mich kennt. Ich kenne mich ja nicht einmal selbst." (S.31)