Danke für diese Begegnung!

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kultaa Avatar

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Charlotte Roth hat mich in ihrem neuen Roman einer Person vorgestellt, der ich schon häufiger als geahnt begegnet war in anderen Büchern und auch Filmen, deren Name ich aber nicht zuordnen konnte (was man ja irgendwie auch aus dem Leben kennt): Carola Neher - Schauspielerin und liberale, freiheitsliebende Frau der 1920er Jahre. Die Begegnung hat mir durch und durch gefallen, ich habe eine Frau kennengelernt, die kämpft, die weiß, was sie will, die auch ihre Dämonen kennt und mit ihnen ringt und doch auch immer versucht, das beste für sich aus allem zu machen. Ich hege nach Beenden des Buchs tiefe Bewunderung für sie, auch wenn wir in vielen Punkten sicherlich anders sind, und bin froh, ihr auf dieser, wenn auch fiktionalisierten Art begegnet zu sein. Noch einmal wird es mich nicht passieren, dass sie unbeachtet an mir vorbeizieht!

Neben der spannenden Charakterzeichnung, die in sich selbst überhaupt keinen großen Spannungsbogen mit sich bringt, gewinnt das Buch dadurch, dass es einen mitnimmt die in die Welt des Theaters der Weimarer Republik, in die Welt von Brecht und der Berliner Kunstszene seiner Zeit. Man darf sich eine Weile umsehen, mitlaufen, beobachten - und all das reicht aus, um die gut 500 Seiten dabeibleiben zu wollen. Man ist gerne dabei, wird gerne Zeuge, schätzt die einzelnen Szenen und Gedanken, die sich präsentieren, auch wenn sie oder vielleicht auch gerade weil sie nicht mehr miteinander verknüpft sind, als es solche Begebenheiten im Leben nun einmal sind. Das Leben von Carola und den anderen steuert nicht auf ein finales Schicksal hin, sie sind wie alle ihrer Zeit und der Welt, in der sie leben, unterworfen und müssen sich darin immer wieder zurechtfinden - wie alle anderen Menschen auch. Das macht für mich den großen Charme dieser fiktionalen Biografie aus: fiktional ja, aber nicht um den Preis der Lebensnähe. Es ist keine Überhöhung, auch wenn die Bewunderung der Autorin für die Hauptfigur durchaus zu spüren ist.

Einziges Manko: die teils sehr ausladenden historischen Abrisse und Zusammenfassungen des politischen Geschehens. So sehr Roth sich auch bemüht, diese in die Gedanken der Protagonisten einzuweben, kommen sie doch allzu oft eher als Referat im Geschichtsunterricht daher, als als natürliches Einsprengsel. Da hätte ich mir gewünscht, dass dem Leser mehr zugemutet wird, eigenes Vorwissen mitzubringen oder aber die Zusammenhänge selbst nachvollziehen zu müssen, als es immer wieder dermaßen auf dem Silbertablett serviert zu bekommen.

Bei Interesse für interessante Frauen, die 1920er Jahre, liberale Lebensformen und vielleicht auch für Brecht und die Dreigroschenoper sei das Buch jedoch dennoch wärmstens ans Herz gelegt!