„Heiß soll sich die Erde drehen – Notabene: Bis sie kalt ist (Klabund)

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
gerwine ogbuagu Avatar

Von

Carola Neher – „sie ließ sich vor niemandes Karren spannen sondern zog ihren eigenen“ ist eine der Aussagen über Carola Neher in diesem neuen Roman von Charlotte Roth. Niemand konnte sie bändigen. Sie war selbstbestimmt ihr Leben lang bis zum bitteren und unendlich traurigen Ende.
Die Geschichte hat Roth wie ein Theaterstück organisiert – ganz wie es zu diesem Thema – Theater und mittendrin Carola Neher – passt. „Ehe der Vorhang sich öffnet“ treffen wir zunächst Annette, Bibliothekarin in Wehyer bei Edenkoben - vielmehr ein unbekannter namens Georg trifft sie dort, der nach Unterlagen über Carola Neher sucht.
Die Szenen wechseln zwischen Gesprächen von Annette und Georg in Weyhers Heimatmuseum und Rückblenden auf die 20er Jahre in Carolas Leben. Roth fächert Nehers ganzes turbulentes Leben vor uns auf. Es ist ein wahrhaft brillianter Text, den wir vor uns haben. Wir treffen so viele ihrer Zeitgenossen auf diesen spannenden Seiten, Klabund, Brecht, dessen Muse sie wurde und ihr Leben lang blieb trotz Ehe mit Klabund und vielen Begegnungen mit anderen Männern, wie Herrmann Scherchen und Julius Gellner. All diese Männer und viele andere lagen Carola zu den sprichwörtlichen Füßen. Nicht nur Einblicke in die damalige Theaterwelt erleben wir, die politischen Wirren als Hintergrund sind nicht weniger interessant. „Die Demokratie taumelt“ ist einer der Sätze, so wahr und so passend für unsere eigene Wirklichkeit von 2020.
Es kommt der Erste Akt
Schon sind wir in der Kindheit im München der späteren Carola Neher angekommen, sie ist noch Karoline und lebt bei ihrer Mutter mit Geschwistern. So erfahren wir von ihrem ungestümen Wesen, das der Mutter so viele Sorgen bereitet. Sie tut alles, um Caroline einen Platz in ihrer Welt zu sichern, aber Caroline wird von etwas anderen angetrieben, dass tief in ihr steckt und ein Rätsel für ihre Mutter darstellt, obwohl sie dieses „Tier in Karoline“ wie sie es nennt, dem Vater zuschreibt. Karoline wird Carola, sie muss ihren eigenen Weg finden. Das „literarische Theaterstück“ geht weiter, die Bühne bevölkert sich, sie wechselt von Berlin nach Breslau, nach Zeesen ins Brandenburgische, auch nach Frankfurt am Main. Später nach Davos, zu dieser Zeit ist Klabund, inzwischen Carolas Ehemann, schon sehr krank und wird dort sterben. „Heiß soll sich die Erde drehen – Notabene: Bis sie kalt ist (Klabund) ist einer seiner wunderbaren Gedichte, die nur er so schreiben kann. Ein passenderes Motto zu diesen Jahren, den Zwanzigern und später in Deutschland kann man sich kaum vorstellen.
Und immer wieder ist es Brecht, mal Bert, mal Eugen, der nicht von Carola lassen kann, der sie „groß“ machen will und es auch tut, es ist ein langer Weg.
Der Stil Charlotte Roths ist präzise und bezaubernd, jedes Wort sitzt, die Charaktere sind wunderbar gezeichnet. Ein Roman von großer literarischer Qualität und Kunst des Schreibens liegt vor uns. Von Seite zu Seite werden wir angetrieben, weiterzulesen um zu erfahren, wie es wohl weitergeht im Berlin der Zwanziger Jahre aus Carolas Sicht. Er verspricht interessante Einblicke in die Kreise der Intellektuellen in die Carola eintauchen wird, so stellt man sich vor, als ob sie nie etwas anderes getan hat. Und wir fragen uns, ob und wie der fremde Besucher im Heimatmuseum fündig werden wird und ob sich etwas wie eine Beziehung, Freundschaft oder Liebe mit Annette anbahnen wird.
Sehr spannend.