Aufwühlend

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jenniferbihr Avatar

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Ich hatte bestimmte Erwartungen, als ich “Die Kriegerin” in die Hände bekam: Ich habe die Geschichte einer Frau erwartet, die durch ihren Militärdienst traumatisiert wurde und nun ihr Leben in der Gesellschaft beschreiten muss.
Stattdessen habe ich die Geschichten mehrerer Frauen erlebt, die verzweifelt versuchen, sich in unserer patriarchalen Gesellschaft zu schützen - der Militärdienst spielte dabei nur eine unbedeutende Rolle.

“Die Kriegerin” ist ein Roman von Helene Bukowski der 2022 durch den Blümenbar veröffentlicht wurde, in dem es um Frauen geht, die versuchen, sich selbst zu verteidigen - gerade weil sie bereits misshandelt wurden oder das traumatische Erbe ihrer Familie tragen müssen.

Nachdem Lisbeth die Grundausbildung in der Bundeswehr abgebrochen hat, baute sie sich ein Leben in Berlin als Floristin auf.
Scheinbar aus dem Nichts heraus wird ihr dieses Leben zu viel - sie flüchtet sich an die Ostsee in einen Bungalow, den ihre Eltern immer in der Ferienzeit gemietet haben und trifft auf die Kriegerin - eine alte Freundin aus der Bundeswehrzeit. Die Kriegerin ist eine der wenigen Personen, zu denen Lisbeth jemals Nähe aufbauen konnte und gemeinsam begleiten sie sich dabei, ihre traumatisierende Vergangenheit aufzuarbeiten.

Die Geschichte erinnerte mich an vielen Stellen an “Mein Name ist Monster” von Katie Hale (meine Rezi findet ihr hier). In beiden Büchern sind unsere Protagonistinnen emotional distanzierte Personen, die uns eine lückenhafte Perspektive auf ihre Umwelt geben und deren Beweggründe wir zu Beginn nicht nachvollziehen können. Genauso wie Monster hat Lisbeth Schwierigkeiten bedeutsame Beziehungen aufzubauen oder ihre eigenen Gefühle und Erfahrungen zu verarbeiten, was gerade durch Lisbeths Neurodermitis veranschaulicht wird: Sie schlägt aus, wenn ihr Menschen zu nah kommen und sie sich unsicher fühlt.
Lisbeth konnte ihre Neurodermitis kontrollieren, als sie in der Grundausbildung der Bundeswehr oder in Meeresnähe war, weswegen sie als Floristin auf Kreuzfahrtschiffen flüchtete. Doch nicht nur Lisbeth wird von Problemen geplagt.

Die Handlung wird durch Briefe und Textnachrichten von der Kriegerin an Lisbeth vorangetrieben, die diese Nachrichten nutzt, um ihr eigenes Innenleben zu verarbeiteten: In ihren Briefen berichtet sie über die Erziehung ihrer Großmutter, das Bedürfnis nach Nähre, das sie mit Sex befriedigen will und auch einen traumatisierenden Afghanistaneinsatz, der sie in eine Krise gestürzt hat.
Diese Briefe sind es auch, die Lisbeth selbst zum Denken und Handeln anregen, während wir abschnittsweise Szenen aus ihrer Vergangenheit präsentiert bekommen, die wie Puzzlestücke zusammengesetzt ihre Identität zusammensetzen.
So begleiten wir Lisbeth dabei, wie sie sich jedes Jahr zur gleichen Zeit mit der Kriegerin in den Bungalow flüchtet, um sich dort in die Sicherheit aus Sport und Schweigen zu hüllen, die an ihre Bundeswehrausbildung erinnert. Nach und nach entwickelt sich aber die Kriegerin - ihre Lebensumstände verändern sich - und Lisbeth wird von diesem Strom mitgerissen. Die Kriegerin geht Beziehungen ein, wird in Afghanistan durch einen Angriff traumatisiert und will die Frauen um sich herum schützen.
Immer wieder spielen drei weiße Steine eine symbolische Rolle, die der Kriegerin von ihrer Großmutter mitgegeben wurden, um sich zu verteidigen.

Beim Lesen schwingt Lisbeths Distanziertheit ständig mit - Emotionen werden kaum beschrieben, Handlungen von Menschen analysiert, aber ihre emotionalen Auswirkungen übergangen. Lisbeth fokussiert sich gedanklich bei Gesprächen gerne auf Objekte, um Abstand zu ihren Gesprächspartnern zu wahren.
Das führt auch dazu, dass wir als Leser nur einen lückenhaften Blick auf Lisbeths Welt haben und auch sie selbst nur langsam kennenlernen.
Handlungen wirken durch Lisbeths passive Beschreibungen dabei geisterhaft und surreal.

Gerade die Beziehung zur Kriegerin wirkt besonders geisterhaft: Hin und wieder vergehen Wochen und Monate zwischen Treffen und Nachrichten. Wie zufällig scheinen sie aufeinander zu treffen, aber schnell wird klar, dass keine der beiden ohne die andere kann. Die Kriegerin ist dabei schwer einzuschätzen, da wir das Innenleben nur durch ihre Briefe erfahren, in denen sie sich mit schwierigen Erfahrungen beschäftigt. Wir erleben dadurch eine Frau, die immer stark sein wollte, aber sich mit vielen Gefühlen noch nicht auseinandergesetzt hat.

Im Buch treffen wir auch auf weitere Figuren - darunter Lisbeths Partner Malik und ihre Tochter Eden, ein Trio junger Frauen, von denen eine bei einer Party unter Drogen gesetzt wurde und indirekt Lisbeths Mutter und die Großmutter der Kriegerin.
Gerade die weiblichen Figuren wirkten im Buch verloren, denn sie schienen alle auf der Suche nach irgendeiner Form von Sicherheit zu sein. Während Lisbeths Mutter Sicherheit durch ihren Ehepartner und nach dessen Tod durch ihren Job und das Haus besaß, wurde die Großmutter der Kriegerin durch ihre Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg erschüttert und erzog die Kriegerin, damit diese nie schwach wurde. Das Trio wiederum begann, Frauen auf Partys aufzuklären und Männer zu verfolgen, die Frauen missbrauchen wollten.

Wie aufreibend diese Leben sind, wird aber gerade durch Malik deutlich.

Malik lebte unbeirrt sein Leben - er konnte lieben, wen er wollte, hatte einen festen Beruf und musste keine Angst um seine Sicherheit haben. Er verstand die Probleme der Frauen um ihn herum, musste selbst aber unter keinen leiden. Zu ihm als Kontrast wirken die Frauen gehetzt und aufgewühlt.
Deswegen gibt es auch keine Auflösungen in “Die Kriegerin” oder ein poetisches Ende - an der konkreten Lebenssituation der Frauen kann kaum etwas verändert werden.

In “Die Kriegerin” geht es um Kriegerinnen, die sich verzweifelt versuchen, vor der Welt zu schützen, da sie entweder schon Gewalt erfahren haben, oder sich vor ihr schützen wollen. Dabei zeigt Helene Bukowski durch ihren Schreibstil, was diese Lebensperspektive mit einer betroffenen Person macht: Man wird abweisend, distanziert, in ständiger Alarmbereitschaft. Im Buch wird auch deutlich, wie unterschiedlich die jeweiligen Schicksalsschläge aussehen können.

“Die Kriegerin” ist deswegen ein interessantes Buch, bei dem viele Nuancen beim “nebenbei lesen” überlesen werden würden. Das Buch braucht Raum, um sich zu entfalten.
Deswegen empfehle ich dieses Buch denjenigen, die Zeit für ein intensives Buch haben, mit einem nervenaufreibenden Thema.