Ein Jahreshighlight.

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
fraedherike Avatar

Von

„Ich habe Angst, dass das Bedürfnis, Halt zu suchen, so stark wird, dass ich mich einfach fallen lasse und gegen jemanden lehne. Ich muss wachsam bleiben.“ (S. 125)

Lisbeth kann nicht mehr, sie bricht aus und lässt ihren Freund und ihr Kind Berlin zurück. Kurz vor Mitternacht erreicht sie, das Kind mit der kaputten Haut die salzige Weite der Ostsee; Licht Sand Wasser. Seit ihrer Kindheit ist sie jedes Jahr mit ihren Eltern in den Bungalow am Meer gefahren, damit sie heilen kann, ihre Haut zu atmen lernt. Nun, Jahre später, ihre Seele voller Narben, ihr Herz von fremden Händen geformt, sucht sie hier wiederum Zuflucht. Und begegnet der Kriegerin.

„Ich dachte, ich komme stark aus diesem Einsatz zurück und ich dachte, ich komme stark aus diesem Krieg zurück, aber stattdessen merke ich, wie ich immer brüchiger werde, wie ich kurz davor bin, die Hand zurückzuziehen. Wie lange schaffe ich es noch, mich zusammenzuhalten?“ (S. 127)

Sie kennen sich seit der Ausbildung bei der Bundeswehr. Beide wollten sie unverwundbar sein, das Gefühl der Überlegenheit und Stärke unter der Haut prickeln spüren. Doch während die eine an der Front kämpfte, noch immer diesen Tinnitus in ihrem Kopf schlagen hört, lauter als ihr Herz, sie nicht schlafen, unruhig werden lässt, kehrte die andere, Lisbeth, gebrochen und verletzt, schon vor dem ersten Einsatz dieser möglichen Zukunft den Rücken. Ihre Wege trennten sich, aber die gemeinsamen Erinnerungen blieben. Die Steine in den Taschen ihre Talismane, die sie in der Gegenwart wieder zusammenbringen sollten. Doch wie kann man das Donnern der einschlagenden Bomben aus der Erinnerung löschen, wie einen gebrochenen Körper heil machen, ohne noch mehr Schaden anzurichten?

Selten hat mich ein Buch dermaßen gefangen genommen, die Welt um mich herum, einfach alles vergessen lassen wie „Die Kriegerin“ von Helene Bukowski. Eindringlich und roh erzählt sie die Geschichte zweier Frauen, die sich nach Stärke sehnten, nach einem Panzer, der ihnen nichts anhaben kann und im Gegenzug von Traumata gebrochen wurden, ihr Innerstes derbe offengelegt. Und doch unterscheiden sie sich von Grund auf, prallen sie wie Wasser und Feuer aufeinander und lernen sich, Jahre nach ihrer ersten Begegnung, neu kennen. Jede Narbe, jeden Atemzug. Atemlose Träume, schlaflose Nächte, Angst. Jede Nacht, jeden Tag wird die Kriegerin von PTBS heimgesucht, verschließt sich Lisbeth gegenüber immer mehr. Und sucht die Rettung in der Distanz, ihre Rollen verkehren sich. Was bleibt, sind ihre Briefe. In der Einsamkeit der Sprache kann sie sich öffnen und ihre Geschichte erzählen. Von den Steinen, ihrer Großmutter, ihrem Standing als Frau an der Front zwischen Männern. Vom Schießen, dem Krieg und dem, was bleibt.

Flimmernd wechselt die Erzählperspektive zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen den Briefen, der fernen Stimme der Kriegerin, und Lisbeths Wirklichkeit, ihrer Geschichte: physischem und psychischem Schmerz, Einsamkeit, Flucht. Schicht um Schicht wird das Bild klarer, werden Fragen beantwortet, die sich auf den ersten Seiten aufdrängten und ein Gefühl der Unsicherheit und Beklemmung in meiner Brust erzeugten, eine labil flirrende Atmosphäre. Helene Bukowski verwandelt vermeintliche Schwächen in Stärken, gibt ihren Protagonistinnen unvorhergesehene Tiefen, macht sie nahbar trotz ihrer Suche um Distanz. Noch immer spüre ich den Sand zwischen den Zehen, das Salz im Haar. Noch immer ist mein Herz irgendwo zwischen Ostsee und dem Ort, wo die Kriegerin nun ist. Ein Jahreshighlight.