Beeindruckende Leistung

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kleine hexe Avatar

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Der Roman ist die Geschichte einer Familie während eines Jahrhunderts und während des Anbruchs eines neuen Jahrtausends. Fünf Generationen der Familie agieren im Roman, sie leben, sie lieben, sie leiden. Sie versuchen im Leben Fuß zu fassen, versuchen heraus zu finden, was in der Vergangenheit geschah, um im eigenen jetzigen Leben besser verankert zu sein. Es ist nicht einfach. Und so begibt sich Konstantin Stein, im Familienstammbaum in der vierten Generation, auf Spurensuche. Zuerst in Archiven, alte Zeitungen, um etwas über den Zeitgeist, in dem seine Großeltern gelebt haben, zu erfahren. Interessant der Artikel zur fünften deutschen Kriegsweihnacht. Und als die Familienmitglieder in nächster Umgebung in Berlin ihm nichtmehr weiterhelfen können oder wollen, erweitert er seine Suche. Zwischen Rhein, Spree, Bober, Newa, Moskwa, Oka und Wolga, Deutschland, Polen und Russland, zwischen Ludwigshafen im Westen und Nischni Nowgorod im Osten, trifft er auf andere Mitglieder der Familie. Aus den fragmentierten Erinnerungen dieser Anverwandten trägt er Puzzleteile zusammen und sein und implizite auch unser Bild dieser interessanten und so zerrissenen Familie nimmt Gestalt an. Über allen steht Jelena Silber. Und so wie sich ihr Name im Laufe der Zeit ändert, von Jelena zu Elena zu Lena und schließlich zu Baba, so passt sie sich den geänderten Lebensbedingungen an. Sie muss sich und ihre Familie durchbringen. Dabei ist ihr jedes Mittel Recht. Mittels Legendenbildung, teils vom Staat aufgezwungen (ihr getöteter Vater wird zum Märtyrer für die Sowjets stilisiert), teils von ihr selbst erdichtet und Mantra artig wiederholt: Ihr Mann, Robert Silber ist mit einem sowjetischen Lazarettzug nach Berlin transportiert worden, sie hat ihm noch Schmuck und Pelze mitgegeben, aber Robert ist verschwunden. Oder die Exekution der deutschen Männer in Sora durch die Sowjets: Zeitlebens leugnet Elena zusammen mit Tochter Maria beim Verhör der Männer im Rathaus und bei der Exekution dabei gewesen zu sein. Nein Maria, das war nur ein böser Traum. Irgendwann ist sich Maria selber nicht mehr sicher und zweifelt an sich selbst. Es sind diese Legenden und Lebenslügen, mit denen Elena sich und ihre vier Töchter durch die Wirren und Gefährnisse der Zeit bringt. So erscheint uns Elena mal sympathisch als starke Frau, die sich nicht unterkriegen lässt, mal wiederum manipulativ und berechnend. Keine ihrer Töchter darf den Beruf erlernen und ergreifen, den sie möchte, nein, Elena bestimmt alleine wer studieren darf – Vera – Medizin, wer andere Berufe erlernen muss – Katja, Maria und Lara. Ana, die jüngste Tochter ist zweijährig während des Krieges an Diphterie gestorben.
Es gibt nur zwei Männer im Leben Elenas: Alexander Kusnezow, Sohn des Mannes, der hingerichtet wird, weil er 1905 einer der Mitläufer war, der Elenas Vater getötet hat, und Robert F. Silber, der Fabrikant. Letzteren wird sie heiraten, weil das ihre einzige Chance ist, aus Rescheticha an der Oka heraus zu kommen.
Eine der liebenswertesten Personen im Buch ist Claus Stein. Vor der sozialistischen Misere und der dominanten Ehefrau Maria, flüchtet er sich in seinen Beruf als Naturfilmer und -Beobachter. Im Alter an Demenz erkrankt, genau wie seine Schwiegermutter Baba, wird er von Maria auch in das gleiche Heim gesteckt, in dem auch Baba ihre letzten Lebensjahre fristen musste. Claus versucht mittels Fangfragen zu Filmen und Schauspielern mit seinem Sohn Konstantin noch Kontakt zur realen Welt zu halten. Ich war fasziniert wie Konstantin durch diese Fragen verstand, was sein Vater eigentlich sagen wollte und wie diese kurzen Sätze Claus noch einmal für kurze Zeit ins Hier und Jetzt zurückholen können.
Fazit: ein sehr persönliches und faszinierendes Buch, das nie langatmig oder langweilig wird. Vielleicht auch durch den fragmentierten Erzählstil und die verschiedenen Zeitebenen, die sich gegenseitig ergänzen und unser Bild von dieser Familie erweitern. Vorrevolutionäres Russland, Zwischenkriegszeit in der Stalin- und Hitlerdiktatur, Kriegszeit und die ersten gefährlichen Jahre danach, die DDR in den 80er Jahren und schließlich unsere heutige Gegenwart, in der man Reisen kann, ohne extra Genehmigungen zu brauchen und mittels Internet und I Phones immer erreichbar ist.