Die Leute, die sie vorübergehen sahen

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Scott Bradfield wagt sich hier an ein Thema, das extrem schwere Kost ist. Ein Mädchen wird entführt, es ist gerade mal drei Jahre alt. Das allein ist schon entsetzlich genug. Aber dann landet es auch noch bei einem zwar offenbar netten, herzensguten Mann, aber dennoch ist er nicht das, was man einem Kind als Vater wünscht. Besonders verwirrend und nahegehend ist noch dazu, dass Salome - Sal genannt - nicht wirklich Probleme mit ihrer Lage hat. Sie nimmt das alles so gelassen hin, dass man davon ausgehen muss, dass ihre Lage jetzt nicht schlimmer ist als das, was sie bisher hatte. Dieser Gedanke ist gleichzeitig entsetzlich und tröstend. Was soll man Sal wünschen?

Sal ist unfassbar selbständig und gelassen für ihre drei Jahre. Sie achtet darauf, ihren "Daddy" nicht zu ärgern, sieht ihm Fehler nach, beschütz ihn teilweise sogar (Zigarettenglut), lehrt ihn und lernt von ihm. Sie hat gelernt, dass man alles von jetzt auf gleich verlieren kann. Sie bekommt eine schöne Spielküche von ihm, aber sie ist viel zu altklug, um Spaß daran zu haben. Instinktiv weiß sie, dass "Daddy" nicht der Schlaueste ist und sorgt dafür, dass sie ihn nicht reizt. Trotzdem leidet sie sichtlich darunter.

Ein Satz, der mich sehr berührte: "Wahres Glück und Erfüllung – das ist eher ein Ort, den wir immer in uns tragen, ganz gleich wo wir auf einer blödsinnigen Landkarte gerade sind." Den sagt "Daddy" - aber er symbolisiert auch sehr stark Salomes Umgang mit ihrer Lage. Nach einiger Zeit holt die Nachbarin und Vermieterin Mrs. Anderson Sal zu sich. Es scheint so, als würden alle Menschen, die ihr begegnen, Sal ihre Lebensgeschichte erzählen zu müssen. Es bleibt auch offen, wo "Daddy" ist und warum er Sal im Stich gelassen hat. Mrs. Anderson ist nur bedingt eine "Verbesserung". Sal muss so viel erleben, wie es kaum ein Erwachsener macht.

Was machen ihre leiblichen Eltern? Suchen sie nach ihr? Wer ist "Daddy" eigentlich? Er hat den Boiler reparieren sollen, ja - aber ist er ein ansässiger Handwerker oder war das mit dem Boiler eine Lüge? Wie sind Sals echte Eltern - warum ist Sal so erschreckend abgeklärt und erwachsen? So viele Fragen!

Beim Lesen ist man ständig hin und her gerissen. Das kleine Mädchen Sal ist etwas besonderse. Sie erträgt alles, was passiert, auch wenn sie genau weiß, dass "normal" völlig anders ist. Sie macht das Beste aus ihrer Lage - so gut das ein kleines Kind eben kann. Man möchte sie so gern zu sich holen und ihr das schöne Leben geben, das sie eindeutig verdient hat. Bradfielt zeigt dem Leser offenbar mit diesem Buch, wie sich die Welt entwickelt hat, wie abgekapselt jeder einzelne lebt und wie "bunt" diese Gesellschaft ist. Sal bereichert jeden, der ihr begegnet - auch den Leser. Ich muss einfach wissen, wie es mit Sal weitergeht und ob sie ein echtes Zuhause (ob nun bei ihren leiblichen Eltern oder aber ganz woanders) findet. Eine wunderbare Story, die sehr sehr lange nachhallen wird.