Alles haben geht nicht

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bücherhexle Avatar

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Was für ein großartiges, kleines Buch hat Daniela Krien da geschrieben.
Der Roman ist in fünf Teile unterteilt, jeder ist mit einem Frauennamen überschrieben, so ergeben sich die Abschnitte Paula, Judith, Brida, Malika und Jorinde. Zwischen den Figuren gibt es Beziehungen und Berührungspunkte – mal mehr, mal weniger. Diese werden meist zufällig aufgedeckt, während man weitere Abschnitte liest. Innerhalb eines Abschnittes gibt es zwei Handlungsstränge: der eine behandelt die gegenwärtige Situation, der andere wichtige Sequenzen und Erlebnisse aus der Vergangenheit, die bis ins Heute wirken. 

„Der Tag, an dem Paula feststellt, glücklich zu sein, ist ein Sonntag im März.“ Mit diesem fantastischen ersten Satz beginnt der Roman. Paula hat Ludger, einen Dogmatiker und Architekten geheiratet, sie selbst ist Buchhändlerin. Paula muss sich sehr stark an ihren Mann anpassen, braucht ihn aber auch als Halt. Die Ehe ist nicht gut: „So, wie es war, war es gut. Und so, wie es war, war es fragil.“ (S. 36)
Mit der Geburt des zweiten Kindes fühlt sich Paula zwar überfordert, trotzdem geht es irgendwie weiter, bis sie ein schrecklicher Schicksalsschlag ereilt, der Paula in tiefe Depression stürzt:
„Sie wollte nicht sterben, aber leben konnte sie nicht. Sie wollte vergessen, doch das war unmöglich. Und als Ludger den Satz sagte, der ihre Ehe beendete, wunderte sie sich, dass das Schwarz, das sie umgab, noch nicht das dunkelste gewesen war.“ (S. 44)
Zum Glück lernt sie anschließend Wenzel kennen, der der Grund für das weiter oben erwähnte Glück ist.

Judith ist Paulas Freundin aus Jugendtagen. Sie ist beruflich erfolgreich und lebt allein. Trotzdem sehnt sie sich nach einer festen Partnerschaft und ist Kundin bei verschiedenen Internet-Dating-Portalen, kaum ein Mann ist ihr gut genug. Trotzdem berät sie andere in Liebesdingen: „Sie (Judith) kann das gut – die Liebesbeziehungen anderer Leute sezieren, analysieren und ordnen. Sie weiß stets, was zu tun ist,…“ (S. 92)

Brida ist Schriftstellerin. Es verbindet sie eine lange, sehr komplizierte Verbindung mit Götz, der inzwischen mit einer anderen Frau verheiratet ist, zuvor aber mit Brida verheiratet war. Brida wurde zwischen dem Wunsch, eine erfolgreiche Schriftstellerin zu sein, und der Tatsache, dass sie sich um die Bedürfnisse ihrer Kinder kümmern musste, völlig aufgerieben und fühlte sich unglücklich und wenig unterstützt:
„Unversehrt hatte Brida mit neunzehn Jahren das Elternhaus verlassen. Nun, fast zwanzig Jahre später, kommt es ihr vor, als wären ihr alle Knochen einmal gebrochen, die Haut vom Leib gezogen, die Haare ausgerissen, die Zuversicht gestohlen und die Träume zerschmettert worden. Mit dem Menschen, der sie gewesen ist, hat das nichts mehr zu tun.“ (S. 125)

Malika und Jorinde sind Schwestern. Sie kommen aus einem sehr eigenwilligen Elternhaus, das großen Einfluss auf ihre Charaktere ausgeübt hat. Malika ist kinderlos und Geigen-Lehrerin, Jorinde Schauspielerin mit Mann und zwei Kindern. Doch auch diese beiden Frauen hadern mit ihrem Leben und wünschen sich Veränderungen.

Jede beschriebene Frau lebt ein anderes Lebens- und Partnerschaftsmodell, deren Vor- und Nachteile sich dem Leser sehr anschaulich und lebensnah offenbaren. Die Autorin hat die Gabe, Sachverhalte, Gefühlslagen und Charakteristiken in einfachen, anschaulichen Sätzen präzise und treffsicher wiederzugeben. Die Gedankenwelt der Protagonistinnen wird sehr ehrlich abgebildet. Man kommt den Frauen und ihrem Umfeld dadurch sehr nah und kann deren Verhaltensweisen und Entscheidungen sowohl nachvollziehen als auch verstehen - selbst, wenn man sie nicht gut heißt.

Keine der Figuren ist uneingeschränkt glücklich oder wenigstens zufrieden, es gibt starke und schwache Frauen. Innere Konflikte brechen durch und fordern Konsequenzen. Jedes frei gewählte Modell hat auch seine Schattenseiten und manch einer kann außer dem Schatten das Licht nicht mehr sehen. Das ist die Zwickmühle der modernen Gesellschaft: Die Rollen sind nicht mehr festgeschrieben, alles scheint möglich. Jede Frau darf ihren Weg frei wählen, darf ihre sexuellen Wünsche ausleben, kann, muss aber keine Kinder bekommen. Doch jedes Lebensmodell hat auch seine Schwächen und Ideale scheitern oft an der Realität. „Alles Haben geht nicht“, das galt früher und gilt auch noch heute. Wer das nicht akzeptieren kann, befindet sich im Nachteil.

Daniela Krien hat diesen Spagat der modernen Frau zwischen Beruf, Familie, erfüllter Partnerschaft und gesellschaftlichen Erwartungen genial anhand dieser fünf unterschiedlichen Charaktere in Szene gesetzt. 

Handlung und Sprache ziehen einen sofort in den Bann. Sätze wirken nach, manches muss man zweimal lesen, damit sich der Inhalt voll entfalten kann. Man staunt über die geschliffene, jedoch klare und ungestelzte Formulierungskunst der Autorin.
Ich denke, jede Frau findet sich partiell in diesem Buch wieder. Das gibt unglaublich viel Raum zum Nachdenken über das eigene Ich, die eigenen Wünsche, das eigene gewählte Lebensmodell. 

Ein wirklich grandioser Roman, dem ich viele Leser wünsche!