Auftakt der Bloomsbury Saga – Virginia, die Bloomsbury Group und die Kunst des Schreibens

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marionhh Avatar

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London, 1904: Nach dem Tod ihres Vaters ziehen die Geschwister Stephen - Thoby, Vanessa, Virginia und Adrian - aus dem Elternhaus im noblen Stadtteil Kensington, in dem sie mit ihren Halbgeschwistern gewohnt haben, nach Bloomsbury. In der von Standesdünkeln und strengen Etiketten beherrschten noblen Gesellschaft kommt dies gar nicht gut an, doch für die Geschwister ist es eine Erleichterung und Befreiung. Besonders die beiden Schwestern Vanessa und Virginia sind eng verbunden und haben jede ein großes künstlerisches Talent: Vanessa als Malerin, Virginia als Schriftstellerin. Obwohl sie keine Schulausbildung haben, nehmen sie teil an den wöchentlichen Sitzungen der von ihrem Bruder Thoby mit seinen Studienkollegen gegründeten Bloomsbury Gruppe. Besonders Virginia besticht bald mit ihren klugen Bemerkungen zum Thema Literatur.

Ein wundervoller Roman über die Schwestern Vanessa und Virginia Stephen und deren Abnabelung von ihren dominanten und übergriffigen Halbbrüdern. Gleichzeitig eine Hommage an die Bloomsberries, die Gruppe junger Menschen, die Anfang des 20. Jahrhunderts im Hause der Stephen-Geschwister im Londoner Stadtteil Bloomsbury gegründet wurde und die das enge viktorianische Korsett in Frage stellten, über Politik, Literatur und Philosophie diskutierten und offen über Sexualität sprachen. In einer Zeit, in der alle Rechte beim männlichen Geschlecht lagen, Homosexualität mit Gefängnis bestraft wurde und Frauen weder wählen durften noch zu einer höheren Bildung zugelassen wurden, keinen Beruf ergreifen, ja nicht einmal allein wohnen oder reisen durften, setzen sich diese jungen Leute, die alle eine viktorianische Erziehung erhalten hatten, über die Schranken hinweg und leben, soweit möglich, ihre Talente und Neigungen aus. Mit ihren klaren Worten und sarkastischen Schriften brechen sie Tabus, kämpfen für freie Entfaltung und sprengen gesellschaftliche und moralische Zwänge.

Der Autorin gelingt ein außerordentlicher Spagat zwischen historischen Ereignissen, wahren Erlebnissen der Protagonisten sowie deren Gefühls- und Gedankenwelt und fiktiven Dialogen und Handlungen. Hervorragend recherchiert lässt sie das viktorianische England, besonders London, und andere europäische Schauplätze authentisch und lebendig auferstehen, macht historische Personen zu realen Menschen, gibt ihnen Persönlichkeit und lässt den Leser eintauchen in ihre Welt. Die fortlaufenden Kapitel, jeweils überschrieben mit Ortsangabe und Datum, sind keineswegs eine stumpfe Aneinanderreihung von Geschehnissen. Obwohl ein recht geringer Zeitraum betrachtet wird – nämlich Dezember 1904 bis Mai 1909 – beschreibt die Handlung ausführlich einschneidende Ereignisse im Leben von Virginia und Vanessa und widmet sich zudem ausgiebig und kritisch den wichtigen Fragen der Zeit, wie Frauenrechte und gesellschaftliche Klassenunterschiede. Aus verschiedenen Perspektiven erzählt und durch die Einschübe von Briefen perfektioniert erhält der Leser aber auch tiefe und intime Einblicke in die Gefühlswelt anderer Protagonisten, etwa Lytton Strachey oder Clive Bells, die bei weitem nicht zu reinen Nebenfiguren verkommen, sondern hervorragend herausgearbeitete, vielschichtige und komplexe Charaktere sind, mit denen man ebenfalls mit lebt. Mir gingen besonders Stracheys unerfüllte Liebe und sein Hadern mit seinem Leben und seiner Homosexualität zu Herzen.

Besonderer Fokus wird auf Virginia und ihre erwachenden literarischen Ambitionen gelegt. Die sensible und hochintelligente junge Frau hat eine labile Persönlichkeit, neigt zum Grübeln und leidet an manisch-depressiven Schüben. Gleichzeitig jedoch sprüht sie vor genialem Wortwitz, tiefschürfenden Gedanken und überbordender Fantasie. Ihre Kindheit war von strenger viktorianischer Erziehung und männlicher Dominanz geprägt. Die Autorin nennt auch explizit den Missbrauch durch den Halbbruder George beim Namen, der möglicherweise der Grund für ihre Krankheit und ihre Abneigung Männern gegenüber ist. Sie bezeichnet sich selbst als Sapphistin, also als jemanden, der Frauen liebt, doch zu dem einem oder anderen der Bloomsbury Gruppe hat sie ebenfalls eine enge freundschaftliche Beziehung. Besonderer Fixpunkt in ihrem Leben ist ihre Schwester Vanessa. Die beiden lieben sich sehr, sind aber gleichzeitig das Gegenstück der anderen. Sie neiden einander das Talent, dürsten aber gleichzeitig nach dem Lob der anderen. Als Vanessa heiratet und Virginia ausziehen muss, drängt sie sich doch immer wieder in das Leben und die Ehe ihrer Schwester. Ihre Hauptbeschäftigung ist schreiben - Briefe, Essays und anderes - und auch ihren Lebensunterhalt verdient sie mit Artikeln und Rezensionen (ihr Unterricht am Morley College wird nicht erwähnt, vielleicht weil es den Rahmen gesprengt hätte). Befeuert durch die Teilnahme am intellektuellen Zirkel der Bloomsberries und den Lobeshymnen ihres Schwagers Clive Bells beginnt sie außerdem ihren ersten Roman. Obwohl sie freizügig mitdiskutiert, thematisiert sie nie die Übergriffe ihres Bruders George. Virginia ist – wie auch ihre Zeitgenossen – absolut ein Kind ihrer Zeit, zwar voller Hoffnung auf Veränderung - der Befreiung von moralischen Zwängen und der männlichen Dominanz - und mit liberaler Grundeinstellung, aber dennoch gefangen in den viktorianischen Fesseln, deren Dogmen man ihr eingebläut hat. Doch trotz aller Schicksals- und Rückschläge weiß sie, dass sie ihre Bestimmung mit dem Schreiben gefunden hat.

Fazit: Eine wundervolle, zutiefst berührende Geschichte, ein literarisches Denkmal und ein großartiger historischer Roman – der Autorin ist ein hervorragender Einstieg in die Reihe gelungen, die nicht nur Lust auf die weiteren Bände macht, sondern auch zum Nachdenken anregt. Ich war begeistert von dem gehobenen und doch sehr eingängigen Schreibstil und gefesselt von den intensiven und faszinierenden Charakteren, und mich regte es sehr an, mich näher mit Virginia Woolf, ihrer Zeit und ihren Zeitgenossen zu befassen. Die Folgebände werden sich mit Vanessa Stephen/Bell und mit Vita Sackville-West beschäftigen, und damit wird auch Virginias Lebensgeschichte fortgeführt – ich freue mich drauf!