Männer nehmen die Welt nicht wahr, weil sie selber glauben, sie seien die Welt. (Virginia Woolf)

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1903 London. Während ihre Schwester Vanessa einem Kunststudium nachgeht, träumt Virginia Stephen von einem Leben als Schriftstellerin. Die beiden Schwestern stammen aus einem wohlhabenden Intellektuellen Elternhaus und nach dem Tod des Vaters gründen sie gemeinsam mit ihren Brüdern Thoby und Adrian im Stadtteil Bloomsbury eine Wohngemeinschaft, die sich die „Bloomsbury Group“ nennt und ausschließlich der Kunst und der freien Denkweise gewidmet. Künstlern, Literaten und Wissenschaftlern steht ihr Haus für einen Austausch immer offen, das Netzwerk vergrößert sich schnell. Doch die Wohngemeinschaft wird auch kritisch von der Gesellschaft betrachtet, die von Standesdünkel und der damaligen Etikette geprägt ist und vor allem unverheirateten Frauen das Leben schwer macht. Auch Virginia und Vanessa bleiben davon nicht verschont…
Stefanie H. Martin hat mit „Die Liebenden von Bloomsbury-Virginia und die neue Zeit“ den Auftaktband ihrer historisch-biografischen Trilogie um den von Virginia Stephen-Woolf mitgegründeten Bloomsbury-Zirkel vorgelegt, in dem sich Literaten, Kritiker sowie Wissenschaftler tummelten und einen regen Austausch über zeitgemäße Themen wie die Unterdrückung der Frau und der Wunsch nach einem freiheitlichen Geist pflegten. Der flüssige und bildhafte Erzählstil lässt den Leser schnell in die Familie Stephen einziehen und die Ereignisse hautnah miterleben. Interessant stellt die Autorin die Familie Stephen in den Vordergrund, die schon im viktorianischen England recht fortschrittliche Ansichten vertrat und gerade deshalb von der Gesellschaft kritisch beäugt wurde. Was durch den Titel fälschlicherweise darauf hindeutet, dass es sich in der Handlung ausschließlich um die berühmte Schriftstellerin Virginia Woolf, geborene Stephen, handelt, entpuppt sich im Nachhinein als Gründungsgeschichte der Bloomsbury-Group, wobei nebenbei die Entwicklung der Schwestern Virginia und Vanessa abgehandelt wird. Während Vanessa sich der Kunst widmete und Eheprobleme mit ihrem Mann Clive hatte, ist vor allem Virginia diejenige, die gegen die allgegenwärtige Rolle der Frau kämpft und einen großen Freiheitsdrang hat, den ihr die moralisierende Gesellschaft nicht zugestehen will. Misshandlungen innerhalb der Familie haben Virginia zudem sehr geprägt, denn sie hatte zeitlebens bipolare Störungen und war psychisch sehr instabil.
Die Charaktere sind gut herausgestellt und mit realistischen Ecken und Kanten glaubwürdig in Szene gesetzt. Der Leser findet seinen Platz als Beobachter in der ersten Reihe, wo er den Geschwister Stephen bei ihren Unternehmungen folgt und auch einen tieferen Einblick in das Leben von Vanessa und Virginia erhält. Die beiden Schwestern pflegen ein inniges Verhältnis, obwohl sie auch miteinander in Konkurrenz stehen und der anderen den jeweiligen Erfolg neiden. Virginia ist eine rastlose und sprunghafte Frau, sehr intelligent und hochsensibel, doch auch sehr labil und depressiv in ihrer Persönlichkeit. Sie hat aufgrund des an ihr begangenen Missbrauchs eine Abneigung gegen Männer. Vanessa ist ebenfalls eine beeindruckende Frau, doch wird sie bei Weitem von Virginia überstrahlt. Auch Clive Bells und Lytton Strachey, Thoby und weitere Protagonisten sind gut ausgearbeitet und sorgen für einige Unterhaltung.
„Die Liebenden von Bloomsbury-Virginia und die neue Zeit“ ist ein historisch-biografischer Roman, der nicht nur gut die damalige Zeit nebst ihren Wertevorstellungen wiederspiegelt, sondern dem Leser auch einen guten Einblick in das Privatleben von Virginia Woolf und ihren Geschwistern bietet, wobei das Schaffen der außergewöhnlichen Frau leider außen vor bleibt. Deshalb gibt es hier auch nur eine eingeschränkte Leseempfehlung!