Keine neuen Erkenntnisse

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mysticcat Avatar

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Die Macht der Affäre“ von Esther Perel ist 2019 im HarperCollins Verlag erschienen. Der Untertitel lautet „Warum wir betrügen und was wir daraus lernen können“. Also ein Buch, das mal sehr praktisch klingt, fand ich.

Worum geht es?
Der Titel ist hier Programm. Wie definieren wir Untreue eigentlich? Was versteht jede/r unter Monogoamie? Warum sind wir als Betrügende eher geneigt, mildernde Umstände gelten zu lassen, als als Betrogene? Wo beginnt der Betrug überhaupt und kann man Betrug in offenen Beziehungsformen verhindern? All diese Fragen werden in dem Buch aufgegriffen, und immer mit Beispielen aus der Praxis untermauert.

Meine Meinung
Vorweg: Ich lese das Buch nicht, weil ich selbst von dem Thema betroffen bin. Da aber ein sehr wichtiges Familienmitglied, das mittlerweile verstorben ist, eine Affäre hatte und ich keine Möglichkeit mehr habe, diese Seite (oder die der Geliebten) zu hören, wollte ich dieses Buch unbedingt lesen.
Wäre es kein Rezensionsexemplar, hätte ich nach spätestens 100 Seiten abgebrochen. Da ich mich generell für Beziehungsformen interessiere und mein ganzes Leben lang seriell monogam gelebt habe (derzeit bin ich verheiratet mit einem Kind) kommt für mich eine Affäre aus Respekt meinem Partner gegenüber nicht in Frage. Ich möchte, dass er Dinge, mit denen er unzufrieden ist, jederzeit ansprechen kann und nehme mir das Recht auch selbst heraus. Da wir schon viele Tiefen (mit eher mäßigen Höhen) miteinander durchlebt haben, ist mit jedem Jahr mein Respekt gewachsen. Im näheren Umfeld habe ich mich jedoch schon oft mit Affären auseinandersetzen müssen – von der betrogenen Freundin, die vor den Scherben ihres Lebens stand, bis hin zur „anderen Frau“ in der Beziehung, die jahrelang vergeblich darauf gewartet hat, dass sich der Mann nun endlich voll und ganz für sie entscheidet. Daher liegt es mir fern, den Moralapostel herauszukehren: auch meine Beziehungen waren, bis auf meine aktuelle, nicht dauerhaft glücklich, was jeweils nach einigen Jahren zur Trennung geführt hat. Da für mich das kirchliche Eheversprechen ein „ich will“ und nicht ein „ich kann“ oder ein „ich werde“ beinhaltet, habe ich meinem Partner damals kommuniziert, dass eine bloße Willensbekundung für mich nicht von Wert ist. Es gibt keine Garantie im Leben, und ich werde andere Menschen ebenso attraktiv und anziehend finden, wie mein Partner. Die Frage ist nur, wie man für sich selbst damit umgehen kann. Da Loyalität für uns beide, nicht nur innerhalb der Beziehung, ein wichtiger gemeinsamer Wert ist, bleibt mir zu hoffen, dass die offene Kommunikation ausreicht und wir gemeinsam Abenteuer erleben können – jetzt, wo die anstrengende Phase der fordernden Kindererziehung endlich zu Ende geht. Auf diese Fragen habe ich im Buch jedoch keine Antwort gefunden, ebenso fehlen mir fundierte Ratschläge zu gelungener Kommunikation. Als scheinbar einzige Lösungsmöglichkeit wird der Gang zur Therapeutin aufgezeigt (die die Autorin ja praktischerweise auch gleich ist). Alternativen, zum Beispiel Gesprächsleitfäden oder Hilfestellung zum Aufbau von unterstützenden Netzwerken, außerhalb von Polyamorie, fehlen mir hier. Dadurch ist mir das Buch als Fachbuch zu dünn, weil so viele Fallgeschichten eingearbeitet werden, konkrete Studien jedoch fehlen. Als Ratgeber fehlen mir die Ratschläge samt Umsetzungsmöglichkeiten, wodurch ich das Buch auch nicht in diesem Genre einordnen würde.
Im Buch werden die verschiedenen Aspekte von Beziehungen beleuchtet – einerseits fühlen sich Menschen von Heimlichkeiten generell angezogen – und blenden dabei aus, dass ihr eigenes Handeln auch Konsequenzen für Mitmenschen hat. In der egoistischen Gesellschaft, in der wir leben, ist das keine überraschende Handlung. Auf den Wandel der Werte und der Gesellschaftsstruktur wird im Buch zwar eingegangen, jedoch wird im letzten Teil des Buches gesagt, dass es „keine Erkenntnis darüber gebe, was Frauen wirklich brauchen, weil sie historisch gesehen nie die Möglichkeit hatten, das herauszufinden“. Dem möchte ich entgegen halten, dass es auch matriachale Gesellschaften gegeben hat, und wenn man da etwas recherchiert sieht man, in wie fern sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (man muss sie natürlich im gleichen historischen Kontext sehen) von denen männerdominierter Gesellschaften unterschieden haben.

Fazit: Kein Fachbuch, da die Stunden fehlen, und kein Ratgeber, weil so gut wie kein Rat gegeben wird. Bestenfalls als Basisliteratur zum Einstieg ins Thema brauchbar.