Der Mensch ist des Menschen Wolf

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elke17 Avatar

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Der französische Autor Jean-Christophe Grangé ist hierzulande, wenn überhaupt, am ehesten bekannt durch die Verfilmung seines zweiten Thrillers „Die purpurnen Flüsse“. Vielleicht ändert sich das ja mit seinem neuen Buch „Die marmornen Träume“, einem historischen Kriminalroman, dessen Handlung in Deutschland verortet ist.

Berlin, 1939. Der Zweite Weltkrieg steht vor der Tür, und das tägliche Leben hat sich mit der Machtübernahme durch die Nazis verändert. Man duckt sich aus Angst vor Hitlers Schergen. Gestapo und SS üben ihre Macht gnadenlos und mit aller Härte aus. Für alle anderen gilt die Devise „nur nicht auffallen“, es sei denn, man gehört zu denjenigen, die sich im Schatten der Nationalsozialisten gemütlich eingerichtet und/oder Karriere in der Partei gemacht haben. Und man genießt die Annehmlichkeiten, die damit einhergehen, wie den exklusiven Club im Adlon, dem ersten Haus am Platz. Doch dann wird in dessen unmittelbarer Nähe eine aufs Grausamste verstümmelte Dame der oberen Gesellschaft gefunden, ausgeweidet und mit durchschnittener Kehle, und sie wird nicht die einzige bleiben. Aber wer steckt hinter den Morden? Ist es ein kaltblütiger Killer, der Freude am Töten hat oder doch ein Wahnsinniger mit einer Mission? Und wenn ja, welchen Plan verfolgt er?

Drei Menschen mit unterschiedlichstem Hintergrund und Motivation bemühen sich um die Aufklärung der Morde: Frank Beewen, von oberster Stelle mit der Aufklärung der Morde beauftragt. Simon Kraus, Psychiater und Traumforscher, der nicht nur berufliche Verbindungen zu den Opfern hatte und schließlich Baronin von Hassel, ebenfalls Psychiaterin, aber auch Leiterin der Anstalt, in der Beewens Vater untergebracht ist, die selbst mit alkoholvernebeltem Hirn schneller als die beiden Männer die richtigen Schlüsse zieht. Fokussiert darauf, dem Mörder das Handwerk zu legen, gibt es immer wieder Situationen, in denen das Trio nicht die erforderliche Vorsicht walten lässt und tief in den nationalsozialistischen Sumpf gerät, der gefährlich für Leib und Leben ist.

680 Seiten bieten Grangé ausreichende Möglichkeiten, um zum einen die Charakterisierung seiner Protagonisten bis ins Detail stimmig auszuarbeiten und zum anderen die Geschichte, die er erzählen möchte, logisch aufzubauen und zu entwickeln. Wir kennen das aus seinen früheren Büchern. Diese Vorgehensweise generiert zwar Längen zu Beginn, aber Geduld lohnt sich, denn im zweiten Teil zieht die Spannung mächtig an. Hier zeigt er ein realistisches Bild der Verhältnisse, die 1939 in Nazi-Deutschland herrschen und von Willkür, Grausamkeit und Gewalt geprägt sind. Schonungslos hält er uns den Spiegel vor, zeigt eine verrohte Gesellschaft, die nicht nur ihr Mitgefühl sondern auch ihre Moral verloren hat, in der der Mensch des Menschen Wolf ist. Derjenige, der dagegen angeht, um seine Menschlichkeit zu retten, muss zu den gleichen Mitteln wie seine Widersacher greifen, da Gewalt sich in diesem Stadium der Historie nur mit Gewalt bekämpfen lässt. Dabei hat man aber glücklicherweise nie den Eindruck, dass den drastischen Beschreibungen voyeuristische Motive zugrunde liegen, denn wir wissen alle, dass in dieser dunklen Zeit wesentlich schlimmere Dinge als die beschriebenen geschehen sind.

Ein historischer Kriminalroman, verankert in dem dunkelsten Kapitel unserer deutschen Geschichte, der die Natur des Menschen auf den Prüfstand stellt und zum Nachdenken anregt. Lesen!