3,5 Sterne: Vom ruhelosen Warten auf das drohende Unheil

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lovely_lila Avatar

Von

* Spoilerfreie Rezension! *

Inhalt

Für Joseph Kavanagh ist der große, gefürchtete Tag gekommen: Er tritt seinen Dienst auf der Mauer an, die England seit dem „Wandel“ umgibt. Gemeinsam mit seinen KameradInnen wird er zwei Jahre lang abwechselnd Tag und Nacht die Mauer gegen Flüchtlinge – „Andere“ – verteidigen. Er wird sich langweiligen, zu Tode ängstigen und alles geben – das muss er auch, denn er weiß: Für jeden Anderen, der die Mauer überquert, wird einer von ihnen mit einem kleinen Boot auf dem Meer ausgesetzt und muss dort ums Überleben kämpfen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Klett-Cotta
Seitenzahl: 348
Erzählweise: Ich-Erzähler (am Beginn kurz ein Du-Erzähler), Präteritum
Perspektive: männliche Perspektive (Joseph)
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch: - Es werden keine Tiere gequält. Es werden Möwen und Fische getötet, um sie zu essen. Das Fleisch ist allerdings wirklich überlebensnotwendig für die Menschen.

Warum dieses Buch?

Bei diesem Buch hat mich der Klappentext sofort neugierig gemacht, da der Autor die momentane Isolationspolitik Englands in seiner Dystopie auf die Spitze treibt!

Meine Meinung

Einstieg (+)

Der Einstieg, der sehr atmosphärisch war, ist mir rasch gelungen und eigentlich auch recht leicht gefallen. Sofort meint man, die eisige Kälte und den kalten Wind auf der Mauer selbst am Körper zu spüren.

"Es ist kalt auf der Mauer. Das ist das Erste, was einem jeder erzählt, und auch das Erste, was einem auffällt, wenn man dorthin versetzt wird. Das ist es, woran man die ganze Zeit denken muss, wenn man sich auf ihr befindet, und daran erinnert man sich, wenn man nicht mehr dort ist. Es ist kalt auf der Mauer." E-Book, Position 25

Schreibstil (+/-)

John Lanchesters Schreibstil ist eindringlich, bedeutungsschwer, lässt sich meist flüssig lesen und geht bei Beschreibungen oft sehr ins Detail. Selten ist auch ein wenig Humor enthalten, was mir sehr gut gefallen hat, weil es die Stimmung auflockert. Er besteht aus einfachen Wörtern, ist jedoch dennoch stellenweise durch eine gewisse Komplexität gekennzeichnet, die es einem nicht erlaubt, das Buch nebenbei zu lesen. Das liegt vor allem daran, dass der Autor teilweise zu langen Schachtelsätzen und Hauptsatzreihen neigt. In manchen Momenten fand ich, dass er dadurch perfekt die Ruhelosigkeit, die auf der Mauer herrscht, und die rasenden Gedanken der VerteidigerInnen einfängt (teilweise rutscht der Schreibstil sogar in einen Bewusstseinsstrom ab) – dann war ich begeistert.

In anderen Momenten (vor allem auch später im Buch, als der Schreibstil langsam begann, mir auf die Nerven zu gehen) hätte ich den Autor manchmal am liebsten gefragt, ob es ihn umbringen würde, doch einfach mal einen Punkt zu setzen. Teilweise wirkte die Sprache auf mich dadurch nämlich auch ein wenig prätentiös und unnötig kompliziert. Auch die sachliche, unterkühlte Erzählweise und die Wiederholungen haben mich gestört. Dennoch: Gegen Ende habe ich mich wieder mit dem Schreibstil versöhnt und konnte das Buch mit einem zufriedenen Gefühl beenden.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„‘Sie haben sich wieder aufgemacht, und zwar sehr zahlreich – so zahlreich wie damals, vor vielen Jahren, als uns der Wandel zum ersten Mal traf. Das ist also der erste Punkt, den ich Ihnen heute mitteilen wollte. Die Anderen kommen.‘“ E-Book, Position 1677

Über „Die Mauer“ von John Lanchester hatte ich im Vorhinein schon viel Gutes gehört. Mit der Wahl des Inhalts, der in drei Teile gegliedert ist („Die Mauer“, „Die Anderen“, „Das Meer“) bewegt sich John Lanchester mit Sicherheit am Puls der Zeit: Während aktuell in England der Brexit bevorsteht, treibt der Autor die selbstgewählte Isolationspolitik auf die Spitze, indem er eine dystopische Welt erschafft, in der Großbrittanien von einer hohen Mauer umgeben ist, um "Eindringlinge" fernzuhalten. Wer jemanden (versehentlich) ins Land lässt, wird dem Meer übergeben und wird sehr wahrscheinlich sterben.

Ein Szenario, das einen erst einmal schlucken und – vor allem – nachdenklich werden lässt. Denn so könnte es auch bei uns eines Tages aussehen, wenn durchgesetzt wird, was viele fordern: dass wir unsere Grenzen um jeden Preis schützen und keinen einzelnen Flüchtling mehr durchlassen. Die langweiligen, trostlosen, von Angst und Ungeduld geprägten Wachdienste auf der Mauer bringen einen ebenfalls zum Nachdenken. Minutiös schildert der Autor die gleichförmigen Tage, an denen nichts Nennenswertes passiert. Wir begleiten den Protagonisten dabei, wie er in Zeitlupe seinen Müsliriegel verspeist, wie er lernt, nicht mehr auf die Uhr zu schauen (weil die Zeit dadurch nur langsamer vergeht), wie er Freundschaften schließt und sich verliebt. Themen wie Kameradschaft, Überleben, Tod, Krieg, Verlust und Trauer stehen ebenfalls im Mittelpunkt der Geschichte. Wie viele andere LeserInnen hat auch mich die Mauer im ersten Moment an jene in „Game of Thrones“ erinnert – jedoch verschwindet dieses Gefühl schnell wieder – zu sehr unterscheiden sich die beiden Geschichten.

Auch wenn ich Kavanagh gerne auf seiner Reise begleitet habe und auch wenn uns John Lanchester hier eine wendungsreiche, unvorhersehbare, durchaus unterhaltsame Geschichte bietet: Um eine Gesellschaftskritik zu sein, behandelt das Buch seine eigentlichen Themen – Brexit, Isolationspolitik, Flüchtlingsströme und Klimawandel – jedoch viel zu oberflächlich. Der Autor geht hier nicht genug in die Tiefe, liefert kaum Hintergrundinfos, wie es zu dieser verfahrenen Lage kommen konnte. Meiner Meinung nach hat es sich der Autor auf diese Weise leicht gemacht – zu leicht. Das Ende fand ich – auch wenn es vielleicht nicht allzu kreativ war – gelungen. Ich mochte die Mischung aus Hoffnung, Ungewissheit und Trostlosigkeit, die mitschwang, sehr.

Haupt- & Nebenfiguren (-)

Die Figurenzeichnung ist meiner Meinung nach leider eine der größten Schwächen des Buches. Es war sehr schwer für mich, eine Bindung zum Protagonisten aufzubauen. Das lag am zu nüchternen, emotionslosen Schreibstil und an der farblosen, latent unsympathischen Hauptfigur Kavanagh selbst. Er hält sich – vor allem am Beginn des Buches – für etwas Besseres als seine KameradInnen, ist sehr arrogant (die letzte Generation hat alles falsch gemacht und seine alles richtig!), gewissenlos und unreflektiert, was seine Tätigkeit auf der Mauer und die „Dienstlinge“ (moderne Sklaverei!) betrifft. Nur langsam hat er sich positiv verändert und ebenso langsam habe ich mich ihm angenähert. Gerade als ich begann, mit ihm mitzufühlen und mitzufiebern, war das Buch zu Ende.

Auch die meisten Nebenfiguren blieben blass und eindimensional. Die oberflächlichen Dialoge und die wenige Zeit, die Joseph mit ihnen verbringt, machen es leider nicht möglich, sie näher kennenzulernen. Jedoch gibt es auch hier Ausnahmen – manche Figuren wie zum Beispiel der Hauptmann sind meiner Meinung nach sehr gut gelungen. Richtig cool fand ich übrigens Hifa, die statt zum Gewehr immer lieber gleich zum Granatwerfer greift und damit allen zu Hilfe eilt.

Liebesgeschichte (+/-)

Gut gefallen hat mir, dass sich die Beziehung zwischen Joseph und Hifa nur langsam entwickelt, was unter solchen Umständen sehr glaubwürdig ist. Zuerst freunden sich die beiden an, erst später wird mehr daraus. Leider fand ich auch die Liebesgeschichte zu emotionslos – sie konnte mich leider nicht mitnehmen und berühren. Dafür war zu viel Distanz zwischen mir und den Figuren.

Spannung (+/-)

Eines steht fest: „Die Mauer“ ist nur etwas für Fans (sehr!) ruhiger Bücher. Es gibt in dieser Geschichte nur wenige Dialoge, dafür aber viele Beobachtungen. Es passiert wenig auf der Mauer – und es passiert dementsprechend wenig im Buch. Ist es eigentlich genial, dass wir uns als LeserInnen vor allem im ersten Teil der Geschichte so durchs Buch quälen müssen wie die VerteidigerInnen sich durch ihre Wachdienste? Oder zeugen die fehlende Spannung, die statischen Beschreibungen des Alltages und die Langatmigkeit der Geschichte von schlechtem Handwerk und sind eher enttäuschend? Ich bin unschlüssig, tendiere jedoch eher zu Letzterem. In der zweiten Hälfte wird es dann endlich spannender (es passiert auch mehr) – diesen Teil fand ich sehr unterhaltsam. Auch die vereinzelten Cliffhanger und die kryptischen Vorausdeutungen haben mich absolut überzeugt.

Atmosphäre (♥)

Begeistert war ich jedoch von der Atmosphäre im Buch. Ich liebte diese düstere, beklemmende, trostlose, hoffnungslose (Kasernen-)Stimmung, die Sorgen und die Verzweiflung der VerteidigerInnen und dieses regungslose, aufgeladene, unruhige Warten auf das Unheil und die drohende Gefahr!

„Nachts, auf der Mauer, ist deine Fantasie dein Feind. […] Du siehst und hörst Dinge, die gar nicht da sind.“ E-Book, Position 900

Feministischer Blickwinkel (+)

Nur wenige Dinge haben mich hier gestört: Bei den Eltern von Joseph gibt es eine sehr traditionelle Rollenverteilung, bei der die Mutter sich um den Haushalt kümmert. Frauen werden entführt, um wahrscheinlich vergewaltigt zu werden (macht wütend, ist aber leider auch realistisch in einer solchen Situation) – stattdessen wird für sie entschieden, dass der Tod besser für sie ist. Ich bin unschlüssig, wie ich das finden soll! Andererseits sind auch viele Frauen auf der Mauer vertreten, die ihren männlichen Kollegen, was Mut und Einsatz betrifft, in nichts nachstehen und immer wieder ihre KameradInnen retten. Männer dürfen weinen, die Beziehung von Joseph und Hifa ist gleichberechtigt. Zudem gibt es auch keinerlei frauenfeindliche Sprache im Buch – danke dafür! In den Führungspositionen hätte ich mir allerdings ein ausgeglicheneres Verhältnis gewünscht (Politiker, Hauptmann, Sergeant etc.).

Mein Fazit

„Die Mauer“ ist eine düstere, beklemmende Dystopie am Puls der Zeit, die meine hohen Erwartungen leider nicht zur Gänze erfüllen konnte. Der Schreibstil ist einfach, flüssig und fängt die Ruhelosigkeit der VerteidigerInnen auf der Mauer gelungen ein, aber er zeigt sich oft auch zu nüchtern und emotionslos, die teilweise langen Sätze strengen im Laufe des Buches an. Ich habe die durchaus unterhaltsame, wendungsreiche und unvorhersehbare Dystopie über Liebe, Freundschaft, Überleben und Tod vor allem in der zweiten Hälfte sehr gerne gelesen. Um jedoch eine Gesellschaftskritik zu sein, behandelt das Buch seine Kernthemen – Brexit, Isolationspolitik, Flüchtlingsströme und Klimawandel – viel zu oberflächlich. Der Autor geht hier nicht genug in die Tiefe, liefert kaum Hintergrundinfos, wie es zu dieser verfahrenen Lage kommen konnte – und macht es sich auf diese Weise zu leicht. Die Figurenzeichnung ist meiner Meinung nach leider eine der größten Schwächen des Buches. Es war sehr schwer für mich, eine Bindung zum farblosen, arroganten, unreflektierten, latent unsypathischen Protagonisten aufzubauen. Auch von den anderen Figuren sind nur wenige besser gelungen. Die zweite große Schwäche des Buches ist seine fehlende Spannung und Langatmigkeit – zumindest im ersten Teil. Ich habe mich hier leider so durch die Geschichte quälen müssen wie Joseph sich durch seine Wachdienste. Großartig fand ich hingegen die düstere, beklemmende, trostlose Stimmung, dieses regungslose, aufgeladene Warten auf das drohende Unheil! Kurz: In „Die Mauer“ macht John Lanchester vieles richtig, aber leider auch bei wichtigen, grundlegenden Dingen einiges falsch. Seine Zukunftsvision konnte mich leider nicht auf ganzer Linie überzeugen.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Hauptfigur: 2 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 2,5 Sterne
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir dreieinhalb Lilien!