Betonwindkältehimmelwasser

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aennie Avatar

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Joseph Kavanagh ist auf dem Weg zur Mauer. Wie jeder Bürger Großbritanniens muss er seine zwei Jahre Wachdienst ableisten. Die Mauer umgibt das gesamte Land. Immer wieder versuchen Eindringlinge vom Meer her das Bollwerk zu überwinden. Die Aufgabe der Wachen ist es, dies mit allen Mitteln zu verhindern. Die Strafe für ihr Versagen ist grausam und unerbittlich. Geschildert wird, wie Joseph den Dienst auf der Mauer erlebt, wie sich eine Gemeinschaft bildet, wie der ewige Rhythmus zwischen Tag- und Nachtschichten, Urlaub und Training sich langsam einpendeln. Bis ein Ereignis diese Monotonie abrupt zu einem Ende führt und Josephs Leben sich plötzlich in einer anderen Sphäre abspielt.

„Die Mauer“ spielt in einer unbestimmten Zukunft. Vieles hat sich geändert seit „dem Wandel“. Dieser liegt in dieser Geschichte in der Elterngeneration der Protagonisten, die jeweils Anfang 20 sein dürften, begründet. Offensichtlich haben Klimaveränderungen zu einem rasanten Anstieg der Meeresspiegel geführt. Ganze Landstriche sind im Meer verschwunden, Strände gibt es nicht mehr. Großbritannien hat sich irgendwann dazu entschlossen, drastische Maßnahmen zu ergreifen. Jeder Bewohner trägt einen Chip in sich, der ihn als Bürger ausweist. Eine Elite regiert, hat Zugang zu Bildung, die Fortpflanzung ist einerseits streng reglementiert und gewährt andererseits gewisse Privilegien. Äußeres Merkmal ist die vollkommene Abschottung der Landmasse durch eine gewaltige Mauer und der Zwang, auf dieser Mauer Dienst zu tun. In endlosen 12-Stunden-Schichten, der Witterung schutzlos ausgeliefert und in der ständigen Anspannung und Erwartung eines Angriffs, das eigene Leben und den eigenen Status zu verlieren.

Was für ein krasses Thema. Ein erschreckendes, dystopisches Szenario. Eine gewaltige Sprache des Autors, ein bisschen Waterworld, ein bisschen Mauer von Game of Thrones, aber irgendwie bin ich nach Beenden des Buches enttäuscht. Irgendwie fehlte mir hier für jedwede Einordnung in „was auch immer“ zu viel. Es ist kein Polit- oder Umwelt-Thriller, es ist aber auch irgendwie kein Endzeitdrama. Es zeigt sehr drastische, erschreckende Verhältnisse ja, es nennt Ausgangspunkte, die uns heute auch sehr nah sind, aber wirklich berührt hat es nichts in mir.

Und den Schluss hier „das Buch der Stunde“ vor mir liegen zu haben, nein, zu dem kann ich beim besten Willen nicht kommen.
Migration, Klimawandel, Brexit, so die genannten Schlagwörter – aber soweit weg wie man sich es nur denken kann: Ein irgendwie geartetes Brexit-Thema taucht im Grunde genommen doch gar nicht auf. Ja, Großbritannien hat sich abgeschottet und versucht sich radikal gegen Eindringlinge zu schützen. Hm, ich vermute mal, diese Pläne werden derzeit nicht in Westminster verhandelt.
Migration: ja, es finden offensichtlich Bewegungen statt, es gibt Flüchtlinge, Andere. Das war‘s. Ich kann ja noch nicht mal sagen, ob hier eine Nord- oder Südbewegung stattfindet. Der Norden ist tendenziell lebensfeindlicher, wegen der Kälte und des gestiegenen Meeresspiegels. Trotzdem versuchen die Anderen über die Mauer zu gelangen. Ist es die Lebensmittelversorgung? Man weiß es nicht. Es ist in jedem Fall der beste bewachte sehr kalte Ort, an den man versuchen kann zu gelangen.
Klimawandel: ja, der ist thematisch zugegebenermaßen stark repräsentiert. Der „Wandel“, den die Elterngeneration verursacht hat, die Landmassen, die nun zu Meeresboden geworden sind. Aber: hört sich hier an wie ein plötzliches Ereignis, bekomme ich auch einfach mit dem eigentlich prozessual verlaufenden Klimawandel nicht überein. Ein singuläres Ereignis, durch dass innerhalb eines Jahres alles Eis geschmolzen ist und der Meeresspiegel stieg? Andererseits habe ich die Schilderung oft so empfunden, als sei es kälter – müsste dann nicht wieder Eis entstehen? Ich weiß es nicht, der Autor gibt keine Antworten darauf.

Vorbehaltlos gut bis teilweise grandios fand ich den Roman in sprachlicher Hinsicht. Ich mochte die langen, verschachtelten Sätze, die Art wie der Autor seinen Protagonisten, insbesondere im ersten Teil, Empfindungen, wie die Kälte auf der Mauer, das Gefühl der Dunkelheit, die Zeit, die nicht verrinnt in einer eintönigen 12-Stunden-Schicht voller Anspannung, transportieren lässt. Das hat mich an das Buch gefesselt, das literarische Handwerk, die Art und Weise wie die Inhalte vermittelt werden, ohne dass mich der Inhalt an sich bewegt hat.

Ein interessantes Buch auf ganz merkwürdige Weise. Eigentlich ist es noch am interessantesten, dass man gerade tagesaktuell über eine Mauer in Amerika viel redet. Same same but different. Vielleicht passt’s dann doch wieder ganz gut.