Das Leben, der Tod und noch vielMeer jenseits davon

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chaosbaerchen Avatar

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In „Die Mauer“ von John Lanchester geht es um ein dystopisches Szenario, nämlich das Großbritannien von morgen, das den „Wandel“ hinter sich hat und komplett von einer Mauer umgeben den erbitterten Kampf mit der Außenwelt, nämlich den „Anderen“, aufgenommen hat.

Der Protagonist und Ich-Erzähler ist Joseph Kavanagh, ein junger Engländer, der seinen zweijährigen Dienst auf der Mauer antritt. Er ist einer von den jungen Menschen, die nach einer kurzen sechswöchigen Ausbildung die 10.000 km lange, nur 3 m breite und 5 m hohe NKVB (Nationale Küstenverteidigungsbefestigung) - kurz Mauer - bewachen und gegen jegliche Eindringlinge verteidigen. Schafft es ein Anderer über die Mauer, so muss dafür im Tausch der verantwortliche Verteidiger aufs Meer, wo ihn der sichere Tod erwartet. Josephs Staffel besteht aus 30 Männern und Frauen, die in zwei 12 Stunden-Schichten rund um die Uhr eingesetzt werden. Joseph lernt recht schnell die Leute kennen, die seinem Posten am nächsten sind, dabei interessiert ihn eine Frau namens Hifa besonders, nicht zuletzt weil ihr Geschlecht auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist. Aber der Einsatz auf der Mauer ist wie ein Einsatz in einem Kriegsgebiet eine existenzielle Erfahrung, die jeden an seine Grenzen bringt und die persönliche Perspektive auf ein Minimum reduziert, so dass die Bedürfnispyramide schnell auf einen kleinen Bodensatz schwindet. Der Ernstfall wird zur größten Bedrohung, aber die Realität zeigt sich dann noch schlimmer als der schrecklichste worst case – und doch ist alles relativ.

Das Cover ist sehr außergewöhnlich sowohl in den Farben als auch vom Motiv her. Es mutet wie ein Linol- oder Holzschnitt an mit seinen einfachen Formen und Strichen, die aber in ihrer Gesamtheit als 2-Farbdruck in schwarz und türkis sehr ausdrucksvoll sind – düster und gleichzeitig hoffnungsvoll.

Der Klappentext hat mich sofort angesprochen und die Leseprobe hat mich schnell überzeugt. Jetzt, wo ich das ganze Buch in Rekordzeit gelesen habe, weil ich es schlicht nicht weglegen konnte, bin ich umso beeindruckter.

Das Buch packt einen da, wo man es nicht für möglich hält und zieht einen hinein in „Was wäre wenn“-Szenarios, die weit über das Naheliegende hinausgehen. Gerade weil die Darstellung so unglaublich realistisch ist und man mit dem Protagonisten mitfühlt, ist die Geschichte beängstigend und emotional sehr tiefgreifend – sofern man sich darauf einlässt.

Der Roman verknüpft einige brandaktuelle Themen miteinander und erlaubt so einen neuen Blickwinkel. Man erfährt, was Menschlichkeit bedeutet, man erlebt einen Rollenwechsel vom Insider zum Outsider und man wird mit einer unermesslichen Kaltblütigkeit und Brutalität konfrontiert und versteht, wie Sklaverei entsteht. Der Roman zeigt aber auch, dass man die Hoffnung nicht aufgeben darf, und dass eine offensichtliche Ausweglosigkeit nicht das Ende bedeuten muss.

Das Buch hat mich tief bewegt und zum Nachdenken angeregt. Eine uneingeschränkte Leseempfehlung für alle, die nicht die Augen vor den Problemen der Zukunft verschließen wollen.