Es ist kalt auf der Mauer

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naraya Avatar

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"Es ist kalt auf der Mauer." Das ist das erste, was der junge Kavanagh lernt, als er seinen Dienst auf dem gefürchteten Bauwerk antreten muss. Und es wird genau dieses Zitat sein, welches dem Roman einen Rahmen gibt. Nach der so genannten "Wende" hat Großbritannien sich mit einer riesigen Mauer rund um die Küste abgeschottet. Feindbild und Angstfaktor sind hauptsächlich "die Anderen", diejenigen auf der falschen Seite der Mauer, die sich nicht einfach dem staatlichen Willen unterordnen wollen.

Protagonist des Romanes ist Kavanagh, der sich im Laufe der Handlung den Spitznamen "Yeti" einhandelt. Wie alle jungen Menschen muss er einen zweijährigen Dienst auf der Mauer hinter sich bringen, sie mit seinem Leben verteidigen, gegen einen Feind, den er selbst nie zu Gesicht bekommen hat. Nur die "Fortpflanzler", die ihr Leben allein auf den Fortbestand der Gesellschaft ausrichten, haben die Chance, der Verteidigung dieser gnadenlosen Betongrenze zu entfliehen.

Es ist zunächst eine ereignislose Zeit, die Yeti auf der Mauer verbringt und genau dieser ewig gleiche Tagesablauf, das konzentrierte Warten auf einen Angriff, das stundenlange Stillstehen am selben Fleck - das ist die eigentliche Herausforderung auf der Mauer. John Lanchester gelingt es, diese besondere Situation auch sprachlich einzufangen, indem er seinen Protagonisten alles im Detail beschreiben lässt. Den Ausblick auf der Mauer, die Kälte, die in verschiedenen Typen auftritt, die Angst vor einem feindlichen Überfall und die unfassbare Stille und Einsamkeit während der Schicht.

Gemeinsam mit den Kameraden seiner Kompanie gelingt es Kavanagh, sich durch jeden einzelnen Tag des Dienstes auf der Mauer zu kämpfen. Mit Shoona, die sich mit ihm eine Schicht teilt. Mit Hifa, die seine erste Liebe werden soll. Und mit Hughes, seiner Wachablösung, dem er eigentlich immer nur an zwei kurzen Momenten des Tages begegnet. Doch dann, eines Tages, tritt der gefürchtete Ernstfall ein: ein Angriff der Anderen. Nun muss Kavanagh beweisen, aus welchem Holz er geschnitzt ist und auf welcher Seite er in diesem Kampf eigentlich steht.

Es ist ein beklemmend aktueller Roman, obwohl er genretechnisch zu den Dystopien zählt. Vergleiche zu Präsidenten, die Mauern bauen oder Gesellschaften, die sich verzweifelt gegen alles "Andere" abschotten wollen, drängen sich geradezu auf. Es ist John Lanchesters Verdienst und seine Kunst, die Feinde in seinem Roman so undeutlich und austauschbar zu zeichnen, das jede beliebige Nation, Religion etc. eingesetzt werden kann. Was macht jemanden "anders"? Und sind wir aus einen anderen Blickwinkel nicht selbst "die Anderen"? Das sind Fragen, denen der Autor in seinem Roman nachgeht. Die Mauer wird dabei zur Metapher für allzu vieles, das sich gerade in der Welt abspielt.

Fazit: ein wichtiges, aber auch erschreckend reales Buch