Gesellschaftspolitisch

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katercarlo Avatar

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Es ist kalt auf der Mauer. Dieser erste Satz in Zusammenhang mit dem Buchtitel und dem folgenden Absatz, weckt Assoziationen bei allen, die sich nicht eine sehr strenge Serienabstinenz verordnet haben. Es entstehen im Kopf unweigerlich Bilder einer anderen Mauer, die einige Ähnlichkeiten mit der namensgebenden Mauer in diesem Buch aufweist: auf beiden Mauern ist es kalt, beide schützen eine Bevölkerungsgruppe vor einer anderen, beide sind unwirtliche Orte und auf beide will kaum jemand freiwillig.
Es gibt jedoch auch einen entscheidenden Unterschied: Die eine Mauer steht in Westeros und ist Teil einer Fantasy-Serie, während sich die andere Mauer gerade dadurch auszeichnet keine Fantasy zu sein.
John Lanchester befasst sich sehr intensiv mit der Welt, wie sie tatsächlich ist und wie sie sein wird wenn die Menschen nichts an ihrem Leben ändern: der Klimawandel lässt nur wenig Orte auf unsere Erde zurück, an denen es sich gut leben lässt, und auch dort hat das Leben einigen Luxus verloren. Die Menschen, die das Glück haben dort auf die Welt gekommen zu sein, schirmen sich ab. Sie bauen eine Mauer um ihr gesamtes Land, damit keine Flüchtlinge zu ihnen kommen. Das ist eben jene Mauer, auf der es kalt ist und die einer anderen Mauer ziemlich ähnelt.
Damit greift der Autor neben dem Klimawandel noch ein anderes aktuelles, vieldiskutiertes Thema auf: Der zunehmende Nationalismus vieler Staaten angesichts zunehmender Flüchtlingszahlen, abnehmende internationale Zusammenarbeit und zunehmende Aufrüstung. Besonders spannend macht das Buch in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass das Land, das in dem Buch eine Mauer entlang seiner Grenze baut, Großbritannien ist – das Land, das gerade darum ringt aus der EU auszusteigen.
Kurzum: gesellschaftlich und politisch schafft das Buch es hervorragend den Finger in die Wunde zu legen. Die Parallele zu einer anderen bekannten Mauer mag einige, vor allem zu Beginn, stören, ich persönlich finde jedoch, dass man darüber hinwegsehen kann. Lanchesters Geschichte entwickelt sich in eine vollkommen andere Richtung als Game of Thrones und der Autor hat seinen eigenen besonderen Erzählstil.
Was dem Buch jedoch etwas fehlt ist der Spannungsbogen. Er baut sich zwar immer wieder auf, fällt aber dann ziemlich schnell wieder in sich zusammen oder löst sich in das Offensichtliche auf. Am meisten hat mich enttäuscht, dass der Autor scheinbar nicht wirklich eine Idee hatte, wie er das Buch enden lassen will und der Schluss der Geschichte dementsprechend langweilig und unbefriedigend ist. Der kreativste Ansatz hier war, die Geschichte einfach wieder von vorne beginnen zu lassen, mit „Es ist kalt auf der Mauer“.