Kalte neue Welt - düstere Anti-Utopie

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evaczyk Avatar

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Düster, kalt, trist und hoffnungslos ist die Stimmung in John Lanchesters Roman "Die Mauer". Die dunkle Anti-Utopie erinnert ein bißchen an die Gesellschaft von "Schöne neue Welt". Zwar gibt es keine Gedankenpolizei in diesem Großbritanien einer nicht zu fernen Zukunft, aber jeder, der zum Land gehört, kann dies durch einen implantierten Chip nachweisen. Die anderen - das sind "Die Anderen", und die haben draußen zu bleiben, mit allen Mitteln.

Klimawandel und Brexit haben die Inselnation noch weiter isoliert. Nun schützt eine Mauer vor den "Anderen", und junge Leute müssen hier zwei Jahre lang Pflichtdient ableisten. Wehe, den unerwünschten Immigranten gelingt es, die Mauer zu überwinden - die Strafe ist brutal. Wer Andere eindringen lässt, wird ausgestoßen, muss hinaus aufs Meer.

Erzählt wird "die Mauer" aus der Sicht des jungen Joseph Kavanagh, der seinen Dienst an der Mauer antritt, so wie alle seiner Generation, die nicht mehr weiß, wie es einmal mit Stränden war, mit Ausflügen ans Meer, mit Reisen in andere Länder. Ihre Welt endet an der Mauer und macht sie sowohl zu Wächtern als auch zu Gefangenen dieses Systems, in dem selbst das Familienleben nicht mehr ist, was es mal war.

Die Jungen nehmen der Elterngeneration die Welt übel, in die sie hineingeboren wurden, auch wenn keiner gegen die Verhältnisse rebelliert. Damit es auch eine künftige Generation gibt, die auf der Mauer Dienst tut, ist "Fortpflanzler" eine Art Beruf geworden. Denn die meisten wollen in diese Welt keine Kinder setzen.

Poetisch wird es nur, wenn Lanchester die Kälte auf der Mauer beschreibt, das Erste, was Kavanagh entgegenschlägt:" Es ist so kalt wie Schiefer, wie ein Diamant, wie der Mond. Wie ein verächtliches Almosen." Die Zeit scheint langsamer, zäher zu vergehen auf der Mauer. Die Wächter auf ihrem einsamen Posten haben einen einsamen Job. Wache stehen, schlafen, essen - und dennoch bildet sich eine Kameradschaft.

Ein Angriff der "Anderen" zwingt Kavanagh dann dramatisch zu einem Perspektivwechsel. An die Stelle der kalten Routine treten Verrat und Überlebenskampf, die Erfahrung, was es heißt, Anders zu sein.

Vor allem diese düstere Stimmung in einer Welt voll Kälte, Nässe, Dunkelheit und öder Routine, die Herausforderungen durch das Wetter, die Wogen des Meeres beschreibt Lanchester eindrucksvoll und plastisch. Die Gruppe der Mauerwächter, selbst die des Erzählers, gerät im Vergleich dazu eher oberflächlich, hier hätte ich mir mehr Tiefe gewünscht. Aber vielleicht ist das ja auch beabsichtigt gewesen als Beschreibung der Menschen in einer Welt, die vor allem Funktion und kaum noch Individualität haben. Ein Buch voller (Ur-)Gewalt und Einsamkeit mit dann doch noch einem kleinen bißchen Hoffnung am Ende.