Postapokalyptisches Großbritannien mit kaum überzeugendem Icherzähler

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
buchdoktor Avatar

Von

Nach einer Klimakatastrophe ist der Meeresspiegel gestiegen und auf der nördlichen Halbkugel hat es einen Kälteeinbruch gegeben. Unter der Kälte leiden besonders die Wachposten auf der 10 000 km langen Mauer, die England komplett umgibt. Es gibt keine Küstenlinie und keinen Strand mehr, nur die Mauer. „Nationale Künstenverteidigungsbefestigung“ nennt sich das Projekt. Diktaturen tun sich ja häufig als Sprachverhunzer hervor. Joseph Kavanagh, ein „Hiesiger“, leistet hier mit seiner Kompanie Wachdienst, um das Land vor „den Anderen“ zu schützen, die angeblich ins Land eindringen werden. Sollte es einem Fremden gelingen, die Mauer zu überwinden, werden die Verantwortlichen in kleinen Rettungsbooten ausgesetzt und müssen sich fortan allein durchschlagen. Eine simple Rechnung Mann gegen Mann. Die Enterer der Mauer dürfen sich dagegen in die Altbevölkerung der Insel integrieren. Den Dienst auf der Mauer kann man sich in der knackigen Kälte wie jeden Wachdienst als ungeheuer öde vorstellen. Die Gedanken der Wächter kreisen zwanghaft um Wärme, Essen und um die Angst davor, im entscheidenden Moment zu versagen. Entkommen können die Wächter nur, wenn sie sich als „Fortpflanzer“ melden und damit für die Reproduktion der Wachmannschaft sorgen. Da die Welt von der vorhergehenden Generation zerstört wurde, wundert die mangelnde Motivation zur Fortpflanzung nicht.

Der Icherzähler Joseph, Spitzname Yeti, sieht sich selbst als jemand, dessen Erwachsenenleben nach dem Ende des Wächterdiensts liegen wird. Glaubwürdig, als kritischer Geist und in der Sprache eines reifen Mannes in der Lebensmitte berichtet er aus seinem Leben. Seinen Gedanken bin ich anfangs gern gefolgt, fand es jedoch zunehmend unglaubwürdig, dass Joseph wie frisch aus dem Ei geschlüpft wirkte und sich zugleich wie ein gebildeter mittelalter Mann ausdrückte. Alles, was ihn zu der erzählenden Person gemacht hat, scheint ausradiert zu sein. Den Kontakt zu seinen Eltern, den Mit-Schuldigen an der Klimakatastrophe, hat er abgebrochen. Im letzten von drei Teilen wird Joseph tatsächlich verbannt und muss seine bisher gepflegte Insulaner-Sicht der Dinge abrupt revidieren.

Mit dystopischen und postapokalyptischen Szenarien bin ich eigentlich leicht zu erfreuen, wenn sie mir eine Veränderung meiner Sichtweise ermöglichen. Auch die vielfältige Mauer-Symbolik (einschließlich der Mauer im Kopf und der unvermeidlichen Projektion auf anonyme Feinde von außen) finde ich höchst faszinierend. Der erhobene pädagogische Zeigefinger passend zum Brexit ist hier deutlich zu spüren, „Die Mauer“ konnte mich jedoch nicht völlig überzeugen, weil ich die Figur des Icherzählers nicht glaubwürdig charakterisiert finde.