Wie entfernt ist diese Zukunftsvision?

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kleine hexe Avatar

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Die Große Chinesische Mauer, der Antifaschistische Schutzwall, der Hadrianswall, die israelischen Sperranlagen zur Westbank oder an der Grenze zum Libanon, die Mauer zwischen Mexiko und den USA. Diese Mauern wurden schon errichtet, sind teilweise in Funktion oder wurden zerstört oder werden nur noch touristisch genutzt. Es ist noch eine große Mauer im Plan, zumindest im Kopf von Mr. President.
Und dann gibt es noch eine Mauer, die John Lanchester in seinem Roman rings um die englische Insel gezogen hat nach dem Brexit. In der fernen Zukunft als wegen dem Klimawandel die südlichen Länder komplett unbewohnbar geworden sind und der Norden zwar bewohnbar aber eisigkalt ist. Das Land soll nun autark sein, will sich komplett von innen abschotten. Deshalb wurde entlang der gesamten Küste Englands zehntausend Kilometer lang eine hohe Betonmauer hochgezogen. Erzählt wird dies aus Sicht eines einfachen Soldaten der seinen zweijährigen Dienst an der Mauer antritt. Joseph Kavanagh, der Ich-Erzähler und mit ihm alle britischen Bürger sind elektronisch markiert. Falls es einer der „Anderen“ über die Mauer schafft wird er sofort gefasst und als „Help“ für die Briten eingesetzt. – Hilfe als anderes Wort für Sklaverei. Überhaupt die „Anderen“, das sind Menschen deren Länder überflutet sind oder wegen der Hitze und Stürme seit dem großen Klimawandel nicht mehr bewohnbar sind. Dadurch dass sie konsequent „die Anderen“ genannt werden, werden sie jedoch ihrer Menschlichkeit beraubt und es ist leichter sie abzuwehren, zu verfolgen, zu töten oder auszubeuten. Menschen sind nur die elektronisch markierten Briten. Aber es hat sich noch etwas geändert, im England der Zukunft: Die alten Menschen, die die so alt sind, dass sie noch das Leben vor dem Klimawandel gekannt haben, werden verachtet, ignoriert, verunglimpft, beschimpft. Sie hätten ja noch die Möglichkeit gehabt den Klimawandel aufzuhalten oder zumindest abzuschwächen. Und dieses große kollektive Versagen wird ihnen zum Vorwurf gemacht. Implizite auch uns, die wir jetzt leben. Der Klimawandel hat begonnen, wir erkennen das deutlich an den Stürmen, an den schwindenden Eisdecken an den Polen, an vielen anderen Zeichen. Wir alle lesen das Menetekel um uns aber wir handeln nicht. Zumindest Greta Thunberg, das schwedische Mädchen handelt. Wir schieben die Schuld auf andere: Wir würden ja gerne aber die großen Konzerne, Vattenfall, die Autoindustrie, die eigene Bequemlichkeit.
Zurück zum Buch. Außer der Verachtung und Schuldzuweisung gegenüber den Altvorderen gegenüber will nun keiner von den jungen Briten noch Kinder haben. Die Regierung versucht mit diversen Vorteilen für die „Fortpflanzer“ noch Mauersoldaten für die kommenden Jahre zu züchten, aber ohne viel Erfolg. Wozu in diese abweisende, kalte und pur funktionale Welt ohne jegliche Lebensfreude noch Kinder in die Welt setzen?
Lange Zeit scheint nichts zu passieren, ist trotzdem spannend, so wie Lanchester einnehmend den Dienst an der Mauer und das Leben im zukünftigen Britannien beschreibt. Und plötzlich sind wir drin, mitten in einer geballten Action-Handlung, wie sie keine Netflix-Episode spannender darstellen kann. Ein perspektivwechsel um 180°, und wir erfahren was es heißt ein „Anderer“ zu sein, ein Ausgestoßener, ein Paria, ein Gejagter in einem Kampf um Leben und Tod. Denn so kalt und eintönig der Dienst an der Mauer auch sein mag mit seinem Zwölf-Stunden-Turnus, der Tod ist allgegenwärtig, lautlos, wie ein Armbrustpfeil.
Die Sprache ist komplett dem Buch adäquat: Die Beschreibung des endlosen Dienstes an der Mauer erfolgt in langen, manchmal verschachtelten Sätzen aber wenn die Handlung einsetzt ändert sich die Sprache radikal: kurze abgehackte Sätze begleiten das Geschehen, lassen die Spannung steigen, das Adrenalin wachsen.
Literarische Analogien für diesen Roman lassen sich viele ziehen: „1984“ von George Orwell, „Brave New World“ von Aldous Huxley, „Never Let me Go“ von Kazuo Ishiguro. Aber ich wünsche diesem Roman den gleichen Impact auf die Gesellschaft den ein anderes Buch, schon 1852 in den USA erschienen, hatte: Harriet Beecher Stowes „Onkel Toms Hütte“. Beecher Stowe polarisierte dermaßen die Gesellschaft ihrer Zeit, dass der Sezessionskrieg zwischen Nord und Süd der 9 Jahre später ausbrach auch ihr zu verdanken ist.